22. Japanisches Filmfestival Nippon Connection: Ein Blick ins Programm

Von Tobias Hüser, Naima Wagner, Sarah zur Löwen

Nippon Connection bringt vom 24. bis 29. Mai 2022 wieder japanische Filme auf die Kinoleinwände Frankfurts. Viele der 100 Kurz- und Langfilme feiern beim 22. japanischen Filmfestival in Frankfurt ihre Deutschland-, Europa- oder sogar Weltpremiere. Bis Sonntag können Interessierte vollständig in die japanische Film- und Kulturszene abtauchen: Wie jedes Jahr wird das Kinoprogramm von einer Reihe weiterer Kulturangebote wie Workshops, Konzerten, Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Performances begleitet.

Die Veranstaltungen finden an zwölf Locations statt. Festivalzentren sind das Künstlerhaus Mousonturm und NAXOS. Das Kino des DFF präsentiert von Donnerstag, 26., bis Sonntag, 29. Mai, acht Filme in der Nippon Retro: Stories of Youth. Als Special Screenings sind zudem EUREKA (JP 2000) des kürzlich gestorbenen japanischen Autorenfilmers Shinji Aoyama und Jim Jarmuschs Kultfilm MYSTERY TRAIN (US/JP 1989) im Kino des DFF zu sehen.

Als besondere Zugabe wird ein Teil der Filme vom 30. Mai bis 6. Juni 2022 auf der festivaleigenen Plattform watch.nipponconnection.com gezeigt. Das Streaming-Programm wird am 29. Mai 2022 veröffentlicht.

Alle Informationen zum Festival auf nipponconnection.com.

Das DFF-Redaktionsteam hat einen Blick ins Programm geworfen:

Tobias über:

SALARYMAN (JP 2021, R: Allegra Pacheco), Sektion: Nippon Docs

Filmstill aus Salaryman: Geschäftsleute in Anzügen und mit Aktentaschen laufen durch eine Straße.

Manchmal braucht es eine Außenstehende, um eine Verhaltenskultur zu hinterfragen, die in einem Land über Jahrzehnte als Normalität verstanden wurde. Die costa-ricanische Künstlerin und Fotografin Allegra Pacheco reiste für einige Monate nach Japan, um sich eine Auszeit von ihrem anstrengenden Job zu gönnen. Dort angekommen, holte sie ihr Alltag ein, vor dem sie eigentlich fliehen wollte. Ihr fallen zahlreiche Männer in Anzügen auf, die ihre Aktentaschen haltend in Straßenecken schlafen und doch von den restlichen Passant:innen vollkommen unbeachtet bleiben, die an ihnen vorbeiziehen.

Pancheco entschließt sich, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. In SALARYMAN (2021), ihrem ersten Dokumentarfilm, taucht die Regisseurin ein in die japanische Arbeitswelt und versucht der Welt der Überarbeiteten näher zu kommen. Das Alltags-Credo der Büroangestellten lautet wie folgt: „ganbaru“, was so viel bedeutet wie „durchhalten“. Im Leben dieser Männer (und Frauen) dreht sich alles um Arbeit und das Wohl des Unternehmens. Die Familie muss sich hintenanstellen. Die eigene Freizeit ebenso, wenn es diese überhaupt gibt, kommen die Menschen doch nur zum Schlafen nachhause. Pancheco spricht mit Betroffenen, folgt minutiös ihrem Arbeitsalltag, vom Klingeln des Weckers um 6:30 Uhr am Morgen bis zur Heimfahrt mit der letzten Bahn um Mitternacht. Ist das letzte Meeting doch früher beendet, stürzen sie mit Arbeitskolleg:innen in Bars ab und betrinken sich besinnungslos. Wenigstens ein Vergnügen, das ihnen der Arbeitgeber gestattet. Am Ende des Tages ist häufig der Straßenrand die einzige Möglichkeit, um noch etwas Kraft für den Stress des nächsten Arbeitstages zu tanken.

Diese Unternehmenskultur ist in Panchecos Film fast gänzlich eine Männerdomäne. SALARYMAN offenbart ein vollkommen veraltetes Familienbild, in dem die Frau ihre Karriere aufgibt und sich komplett der Erziehung der Kinder widmet, während der Mann die Kinder nur noch am Wochenende sieht. Voller Ratlosigkeit berichten sie Pancheco, dass sie keinen Ausweg aus ihrer Situation sehen. Sie sprechen offen davon, wie wertlos ihr Leben geworden ist, wie ihre Psyche unter diesen Anstrengungen leidet. Und doch scheint es Normalität in einer Gesellschaft zu sein, in der die ‚Salarymen‘ bereits seit vielen Jahrzehnten existieren, sich für das immense Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit verantwortlich zeichnen und damit Japans Wohlstand beförderten. Eine trügerische Auszeichnung, denn diese scheinbar heroische Tat geht auf unzählige tragische Einzelschicksale zurück. Pancheco gibt diesen Menschen eine Stimme. Über fünf Jahre hinweg hat sie mit ehemaligen und aktuellen ‚Salarymen‘ gesprochen. Sie zeigt uns eine Arbeitskultur, die uns nicht komplett fremd ist, vielmehr aber eine Lehre sein soll, wie wir nicht enden wollen.

SALARYMAN ist als Deutschlandpremiere am Mittwoch, 25. Mai, um 22:15 Uhr im NAXOS Kino und am Donnerstag, 26. Mai, um 17:45 Uhr im Mal Seh’n Kino in Anwesenheit der Regisseurin Allegra Pacheco zu sehen. 

Naima über:

LET ME HEAR IT BAREFOOT (JP 2021, R: Riho Kudo), Sektion: Nippon Visions

Filmstill aus Let Me Hear It Barefoot: Zwei junge Männer sitzen in einem Schlauchboot in einem Schwimmbad.
© PFF Partners

Naomi und Maki lernen einander im Schwimmbad kennen: Naomi (Sion Sasaki) verschnauft am Beckenrad, als die Umgebungsgeräusche plötzlich verstummen und nur noch das Geräusch der sich ihm nähernden nackten Füße zu hören ist. Die Füße gehören zu dem gut gelaunten Angestellten Maki (Shuri Suwa). Später am selben Tag sieht Naomi Maki auf dem Heimweg zufällig mit Midori (Jun Fubuki), einer blinden Frau, an einer stillgelegten Bushaltestelle und bietet ihnen an, sie nach Hause zu fahren. Wenig später finden Maki und Naomi Midori zusammengebrochen an jener Bushaltestelle. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort gesteht sie Maki, dass sie das Land nie verlassen hat und lediglich Geschichten nacherzählt, die sie von jemand anderem gehört hat. Sie bietet ihm ihr Sparbuch an – das einen viel niedrigeren Kontostand aufweist, als sie glaubt – und bittet ihn, die Welt für sie zu bereisen. Naomi, ein Studienabbrecher, der für die Müllabfuhr seines Vaters arbeitet, wird zu Makis Komplizen: Gemeinsam nehmen sie Ton-Botschaften für Midori auf, in denen Maki von fernen Orten berichtet, die er nur aus der dicken Reise-Enzyklopädie kennt, die er gelegentlich auf der Suche nach Inspiration durchblättert.

Die beiden jungen Männer verbringen viel Zeit miteinander und gehen ganz in ihrem Spiel auf. Am schönsten ist der Film in diesen Szenen: Wenn ein nächtliches Hallenbad zur blauen Grotte auf Capri wird, das ein Echo ihrer ausgelassenen Rufe zurückwirft, oder wenn eine Schüssel Sand der Wüste Sahara gleichkommt, in der ein mit einem Staubsauger simulierten Sandsturm aufkommt. Ihr Spiel ist rührend und traurig zugleich: Nicht nur, weil sich die Tonaufnahmen der vermeintlichen Weltreise an die blinde Midori richten, die selbst nicht reisen kann, sondern auch, weil immer offenkundiger wird, dass sie für die beiden jungen Männer mehr sind als ein Spiel, nämlich ein Vorwand, um einander nahe zu sein.

Der Film beschreibt die Anziehungskraft zwischen den beiden zurückhaltend, geradezu vorsichtig. Intimität entsteht in Momenten wie dem, als Maki Naomi auffordert, die Schuhe auszuziehen, um den Klang des Gehens im Sand besser einfangen zu können: „Let me hear it barefoot”. Sie suchen die Nähe des anderen, wissen jedoch nicht, wie sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen können. Ihre Raufereien werden immer wilder, immer verzweifelter im Versuch, eigentlich etwas anderes sein zu wollen.

Vieles bleibt unausgesprochen, das meiste der Interpretation der Zuschauenden überlassen. In dieser Unbestimmtheit liegt letztlich auch die Schwäche des Films: Statt einen Schritt weiterzugehen und offenzulegen, was die beiden jungen Männer davon abhält, eine Liebesbeziehung einzugehen, wiederholt er Situationen, die den Zuschauenden nichts Neues verraten. Auch die Hintergründe der anderen Beziehungen bleiben im Verborgenen: Was sind die Gründe für die distanzierte Beziehung zwischen Naomi und seinem Vater, welcher Art ist Midoris und Makis Verbindung und welches Geheimnis birgt Midoris Vergangenheit? Dennoch gelingt Riho Kudo ein sensibler LGBTIQ-Coming-of-Age-Film, der, mal fröhlich, mal melancholisch, von wunderbaren gemeinsamen Momenten erzählt.

LET ME HEAR IT BAREFOOT ist als Deutschlandpremiere am Donnerstag, 26. Mai, um 19 Uhr im NAXOS Kino und am Freitag, 27. Mai, um 21:45 Uhr im Mal Seh’n Kino zu sehen.

Sarah über:

PARASITE IN LOVE (JP 2021, R: Kensaku Kakimoto), Sektion: Nippon Cinema

Ein junger Mann mit einer extremen Mysophobie trifft auf eine junge Frau mit Skopophobie: Mysophobie ist die Angst vor Schmutz und der Ansteckung durch Bakterien, während Skopophobie die Angst vor den Blicken anderer Menschen bezeichnet. Wegen ihrer Ängste sind Kengo und Hijiri unfähig, Beziehungen zu anderen aufzubauen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, was sie sehr einsam macht. Durch einen Auftrag lernen sie sich kennen, verbringen viel Zeit miteinander und verlieben sich.

Trotz der ernsten Thematik hält der Film immer wieder komische Momente bereit. So parodiert er geschwollene Liebesbekenntnisse in konventionellen Liebesgeschichten, als Hijiri während einer Karussellfahrt in einem Freizeitpark einen Vortrag über Parasiten halten lässt. Ein Gespräch über das Doppeltier, welches nach der Paarung seine Augen verliert und beweist, dass Liebe wirklich blind macht, ist sowieso viel romantischer.

Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto weiter tritt die Krankheit in den Hintergrund. Kengo Kosaka, der ohne Handschuhe und Maske nicht vor die Tür treten konnte, kann schließlich sogar in einem Restaurant Pizza essen. Sie brauchen einander. Der Film schafft zudem eine passende Atmosphäre, die zu Beginn durch hektische Kamerabewegungen und temperamentvolle Musik geprägt ist. Der Eindruck von Unruhe bietet den Zuschauenden einen Einblick in das Innenleben der Figuren und erzeugt so ein Gefühl der Verbundenheit. Im weiteren Verlauf des Films entspannen sich die Protagonist:innen und auch der Film wird ruhiger. Kengo und Hijiri scheinen ihren Frieden zu finden, doch eine letzte Herausforderung müssen sie noch bewältigen.

PARASITE IN LOVE ist ein unkonventioneller Liebesfilm, der auch den Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft beleuchtet und ein besseres Verständnis für diese schafft.

PARASITE IN LOVE ist als Europapremiere am Donnerstag, 26. Mai, um 11:30 Uhr im Mousonturm und am Freitag, 27. Mai, um 20 Uhr im Eldorado Arthouse Kino zu sehen.