Aussiedler, Spätaussiedler und das Kino

Von Heleen Gerritsen

goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films widmet sich Filmkunst und Kultur aus den post-sozialistischen Ländern und erreicht damit ein sehr diverses Publikum: etwa ein Drittel unserer Besucher/innen ist osteuropäischer Herkunft, darunter viele sogenannte Russlanddeutsche oder Menschen aus Russland deutscher Herkunft. Für diese besondere Gruppe gibt es in Deutschland seit 1982 einen Gedenktag: Jedes Jahr findet in Deutschland am 28. August der Tag der Russlanddeutschen statt.

In der Filmkultur spielen die Russlanddeutschen keine große Rolle, weder in Deutschland noch in Russland. Über ihre Geschichte gibt es einige wenige Dokumentarfilme und Fernsehbeiträge. Spielfilme gibt es vor allem von jungen, in Deutschland lebenden Regisseur/innen, die sich mit den Deutschen aus Russland als Migrationsgruppe auseinandersetzen. So zum Beispiel die Migrationsgeschichte POKA  – HEISST TSCHÜSS AUF RUSSISCH (Bild oben, DE/KZ 2014) von der in der kasachischen SSR geborene Deutschen Anna Hoffmann. Der Film spielt zu Zeiten der Wende und zeigt den steinigen Weg von Aussiedler/innen aus Kasachstan, die in Deutschland mit einer neuen Kultur, aber vor allem auch mit der westlichen Marktwirtschaft zurechtkommen müssen.

Aber wem oder was wird denn genau gedacht am Tag der Russlanddeutschen? Am 28. August 1941, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion, ließ Stalin ganze Bevölkerungsgruppen “vorsorglich” deportieren, vor allem nach Zentralasien und Sibirien. Die Umsiedlung sollte eine Kollaboration mit Nazi-Deutschland verhindern. Die Wolgadeutschen und andere deutschsprachige Minderheiten gehörten zu den ersten Opfern der Deportationen: Innerhalb weniger Wochen wurden sie aus den europäischen Teilen der Sowjetunion nach Osten zwangsdeportiert. Auch andere Völker, die sich etwa für ihre eigene Sprache oder gar Unabhängigkeit einsetzten, wie die Tschetschenen und Krimtataren, wurden mit erzwungener Umsiedelung bestraft. Die meisten Zwangsdeportierten waren  zwischen 14 und 60 Jahre alt und wurden am neuen Wohnort in Arbeitslager gebracht. Mehrere Hunderttausend starben vor allem aufgrund schlechter Arbeits- und Lebensbedingungen oder wegen schlechter medizinischer Versorgung. Auch nach dem Krieg war es den Menschen oft nicht gestattet, in ihre Heimat zurückzukehren, stattdessen entstanden vor allem in Kasachstan große deutsche Siedlungen, in denen die deutsche Sprache noch aktiv gepflegt wurde.

Nach dem Krieg gelang es einer kleinen Gruppe Russlanddeutscher nach Deutschland umzusiedeln, in den 1990er Jahren folgte eine große Migrationswelle: Wer die deutsche “Volkszugehörigkeit” nachweisen konnte, hatte laut dem seit 1953 in Kraft getretenen Bundesvertriebenengesetz das Recht, sich in Deutschland niederzulassen und die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Viele Russlanddeutsche und ihre Familien nutzten diese Möglichkeit.

Interessant ist natürlich, dass die Russlanddeutschen in Deutschland häufig als “Russen”, in Russland aber als “Deutsche” betrachtet werden. Über das Bild von Deutschen und Russen im Film hat Filmwissenschaftlerin Oksana Bulgakowa für das deutsch-russische Online-Magazin „Dekoder“ einen lesenswerten Beitrag mit vielen Filmbespielen geschrieben: https://www.dekoder.org/de/gnose/leinwandbilder-russen-deutsche-filmgeschichte

Gestern, am Donnerstag 27. August, wurde in Russland übrigens der Tag des russischen Kinos gefeiert. Filmschaffende gratulierten sich gegenseitig, teilten alte Teambilder und nostalgische Fotos von Filmsets, oder verfassten Artikel, Blogs und lange Facebook-Posts darüber, dass man das “Fest” doch bitte abschaffen solle, weil das Kino eh tot sei. (Was zeigt, dass die öffentliche Diskurse in Deutschland und Russland sich dann doch manchmal sehr ähnlich sind.)

Heleen Gerritsen ist Leiterin von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films