Auf der Seite des Lebens: Dieter Borsche zum 40. Todestag

25.10.1909 – 05.08.1982

von Nathalie Geers

Wer war Dieter Borsche? Was ist heute, 40 Jahre nach seinem Tod, von diesem außergewöhnlichen Schauspieler in der kollektiven Vorstellungswelt übriggeblieben? Erinnerungen kommen bei denjenigen auf, die mit dem Schwarzweiß-Fernsehen aufgewachsen sind: In einer Zeit, in der die Programmauswahl begrenzt war. Hier erschien Borsche als Lord Lindsey, der etwas verrückte englische Aristokrat in den Karl-May-Verfilmungen aus den 1960er Jahren, etwa Richard Siodmaks DER SCHUT (1964) oder Franz Josef Gottliebs DURCHS WILDE KURDISTAN und IM REICH DES SILBERNEN LÖWEN (1965). Einige erinnern sich auch an seine Rollen als seltsame und unheimliche Figuren in Edgar-Wallace-Filmen, wie in Edwin Zooneks DER HENKER VON LONDON (1963) oder im selben Jahr in DER SCHWARZE ABT, wieder von Franz Josef Gottlieb, in welchem er an der Seite von Klaus Kinski auftrat.

Aber auch an einen Borsche als heilbringender und erlösender Engel kann man sich erinnern: Im Nachkriegsfilm NACHTWACHE von Harald Braun, der Borsche 1949 über Nacht bekannt machte, ist er ein katholischer Priester, der seinem evangelischen Kollegen, einem ehemaligen Kriegskameraden und allgemein der ganzen Stadt moralisch beisteht. In Rudolf Jugerts ES KOMMT EIN TAG (1950) verkörpert er an der Seite von Maria Schell die dramatische Figur eines preußischen Offiziers, der infolge einer Verwechslung von seinen eigenen Leuten erschossen wird. In Harald Brauns DER FALLENDE STERN (1950) spielt Borsche dann tatsächlich einen Engel, gefilmt wie eine Erscheinung, im Hintergrund der anderen Figuren, wobei die Beleuchtung immer ein makellos weißes Gesicht hervorhebt. Diese Regisseure wussten sein Gesicht zu nutzen, in dem sich ein harter, trauriger Blick mit einer erlösenden Blässe vermischte. Die späteren Rollen als Ärzte in weißen Kitteln verstärkten dieses Bild des Erlösers. Retter vor den Schmerzen der Seele und des Körpers – wie war es in Wirklichkeit?

Filmplakate mit Dieter Borsche: Auswahl aus dem Plakatarchiv des DFF

Porträt Dieter Borsche um 1950
Dieter Borsche, um 1950 Foto: Europa-Film/Foto Niczky

Borsche kämpfte über Jahre gegen eine Muskeldystrophie, eine Krankheit, für die es noch immer keine Therapie gibt. Die aus dieser Krankheit resultierende Verletzlichkeit versuchte er so lange wie möglich vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

In den 50er Jahren wurden die Rollen des Jungstars, des in glänzenden Uniformen oder weißen Kitteln steifen Erlösers, durch zwiespältige Rollen ersetzt. Er wurde vom Helden zum Schurken. Geboren 1909 erreichte er Ende der 1950er Jahre sein fünfzigstes Lebensjahr. Seine Krankheit schritt unaufhaltsam voran und schränkte ihn bei der Wahl seiner Rollen immer weiter ein. Im Nachhinein kann man annehmen, dass seine einzigartige Motorik ihn dazu veranlasste, beängstigendere Charaktere zu wählen. Er war sich bewusst, dass die für einen ehemaligen Balletttänzer ungewöhnliche Steifheit seines Körpers und seine zunehmenden Schwierigkeiten beim Gehen sichtbar waren, und es ist möglich, dass er sich auf diese Weise schützte, um sich vor dem Publikum nicht rechtfertigen zu müssen. Gleichzeitig begann er in dieser Zeit, sich wieder dem Theater zuzuwenden.

Nur auf der Bühne, die ihn weniger in seiner schauspielerischen Freiheit einschränkte, fühlte er sich wirklich wohl. Dort war er zu Hause. Als er 1974 in Peter Shaffers Stück “Equus” auf der Bühne stand, hatte er den Mut, sich den Blicken des Publikums zu stellen, indem er im Rollstuhl spielte, dabei die wahren Gründe für seine zunehmenden körperlichen Beschwerden enthüllte und sich damit zwangsläufig als Pionier der Integration von Menschen mit Behinderungen in die Welt des Schauspiels erwies. Ein Pionier der Inklusion.

Dieter Borsche war ein Zeitzeuge des Jahrhunderts, in dem er geboren wurde. Der erste Weltkrieg, der Aufstieg des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, der zweite Weltkrieg, dessen erste Ausläufer er mit der wachsenden Angst erlebte, trotz der Diagnose seiner Myopathie eingezogen zu werden. Als Vater von zwei kleinen Kindern kann man sich leicht vorstellen, dass er sich vor der Einberufung fürchtete, die schließlich in den letzten Kriegsmonaten unaufhaltsam erfolgte. Dieter Borsche wurde an die Westfront geschickt und nahm an der Ardennenschlacht teil, aus der er nach einem Aufenthalt in einem amerikanischen Gefangenenlager verwundet zurückkehrte. Doch die körperliche Verletzung konnte eine viel tiefere moralische Verletzung nicht beseitigen, eine brutale Einsicht in den Nationalsozialismus. Als Angestellter am Theater in Breslau wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz geschickt, um die Truppen “abzulenken”, in den 1960er Jahren berichtete er hiervon dem Historiker und Dokumentarfilmer Joseph Wulff. Seit Anfang der 60er Jahre unter der Leitung von Erwin Piscator nahm seine Theaterkarriere eine bewusst politische Wendung. Auch mithilfe seiner Rollen versuchte Borsche, sich von der Last seiner Zeit in Auschwitz zu befreien. Seine bemerkenswerte Darstellung von Papst Pius XI. in Rolf Hochhuths Stück “Der Stellvertreter” im Jahr 1963 gehörte ebenso dazu wie der gemeinsame Leinwandauftritt mit dem jüdischen Geiger Yehudi Menuhin in Wilhelm Thieles Film SABINE UND DIE HUNDERT MÄNNER. Die beiden verband auch eine Freundschaft. In Heinar Kipphardts Stück “In der Sache J. Robert Oppenheimer” spielte Borsche die komplexe Rolle des Physikers Oppenheimer und bekundete seine Ablehnung gegenüber Atomwaffen.

Borsche nutzte sein Wirken als Schauspieler um politisch Stellung zu beziehen und zur Verständigung zwischen verhärteten Fronten beizutragen. Schon einige Jahre hatte er aus eigener Initiative das französische Abenteuer gewagt, als er in Deutschland auf dem Höhepunkt seines Ruhmes war. Zwar beherrschte Dieter Borsche die französische Sprache perfekt, aber der Versuch, die erste deutsch-französische Annäherung seit Kriegsende auf der Ebene des Films zu wagen, war mutig. Es war das Jahr 1953. Seit dem Ende des Konflikts waren erst acht Jahre vergangen und die Wunden und Ressentiments waren in der französischen Bevölkerung noch präsent. Aber Borsche wollte das französische Publikum für sich gewinnen, zunächst in Yves Ciampis DER ARZT UND DAS MÄDCHEN (1954) an der Seite von Jean Marais, und sodann in Jacques Beckers ALI BABA UND DIE VIERZIG RÄUBER. Aber nicht mal an der Seite seines Freundes Heinz Rühmann und anderer damaliger Stars in Jean Drevilles ZWISCHENLANDUNG IN PARIS, der ersten deutsch-französischen Koproduktion der Nachkriegszeit, erzielte Borsche den gewünschten Erfolg, so dass er schließlich seine französische Karriere aufgab, wenn auch nicht ohne Bedauern.

Porträt Dieter Borsche
Dieter Borsche. Foto: Lilo-photo
Porträt Dieter Borsche
Dieter Borsche. Foto: Kurt-Ulrich-Film/Wesel/Herzog
Filmstill: Dieter Borsche in DIE GROSSE VERSUCHUNG (DE 1952)
Dieter Borsche in DIE GROSSE VERSUCHUNG (DE 1952) Foto: Beta Film / DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt / KINEOS Sammlung

Als ich über diesen Schauspieler, den ich völlig neu entdeckte, recherchierte, gestanden mir seine Söhne, dass es erstaunlich sei, dass ausgerechnet ich, eine Französin, mich für ihn interessierte, als ob er durch eine seltsame Wendung der Dinge genau dort eingeholt wurde, wo er so enttäuscht gewesen war, versagt zu haben.

Dieter Borsche war auf seine Weise ein Pionier der deutsch-französischen Aussöhnung, ein Pionier der einzigartigen Arbeit des Theaters zur notwendigen Reflexion über die Ursachen, Verantwortlichkeiten und Folgen des Nationalsozialismus, ein Pionier der Integration von behinderten Schauspieler:innen in Inszenierungen, die für nichtbehinderte Schauspieler gedacht waren. Dieter Borsche war letztendlich auf der Seite des Lebens. Seine Krankheit hinderte ihn nie daran, weiterzuarbeiten, Kinder zu bekommen und sich um seine vier Söhne, wann immer es sein Terminkalender zuließ, voll und ganz zu kümmern. Er heiratete drei Mal und legte immer Wert darauf, eine starke Bindung zu allen Menschen zu behalten, die ihm nahestanden. Auch wenn er außerhalb der Familie als kühl und distanziert galt, liebte er die Menschen am meisten: seine Familie, seine Freund:innen, seine Kollege:innen und das Publikum, dem er auf der Bühne alles gab, was er geben konnte.

Titelbild: Dieter Borsche in ROT IST DIE LIEBE (DE 1956). Foto: Karl-Heinz Vogelmann/Bavaria. Quelle: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt/Sammlung Karl-Heinz Vogelmann