DOK.fest München 2023: Ein Blick ins Programm

Das DOK.fest München, Deutschlands größtes Dokumentarfilmfestival, startet am 3. Mai 2023. Zum Auftakt wirft das DFF-Redaktionsteam einen Blick ins vielfältige Programm.

MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK (Quelle: DOK.fest München)

MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK (Großbritannien 2022, R: Mark Cousins)

Mit MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK wagt Regisseur Mark Cousins einen für eine Dokumentation eher ungewöhnlichen Ansatz: Er lässt Hitchcock höchstselbst, dessen Stimme täuschend echt von Alistair McGowan eingesprochen wurde, durch Hitchcocks Gesamtwerk führen. Dabei finden sowohl Klassiker als auch die weniger bekannten Filme Beachtung. Es ist ein ausführliches Portrait, dessen retrospektiver Blick mit Hilfe kurzer Unterbrechungen auch Bezüge zur (filmischen) Gegenwart herstellt. Ihre Struktur erhält die Dokumentation durch eine Orientierung an sechs Themen, die in Hitchcocks Filmen immer wieder auftauchen, wobei mitunter auch Aspekte seines Privatlebens mit einzelnen Filmszenen oder größeren Motiven in Verbindung gesetzt werden.

Eines dieser Themen/Motive trägt den Titel “Escape” und zeichnet den “Ausbruch” Hitchcocks aus dem alltäglichen Leben in England und die “Flucht” in die USA nach, die geschickt mit filmischen Flucht- und Ausbruchsmomenten verknüpft wird: Flucht aus dem Altbekannten und Annahme einer neuen Identität in PSYCHO und MARNIE, Flucht eines unschuldig Verfolgten oder die berühmte Flucht vor dem Flugzeug in DER UNSICHTBARE DRITTE sind nur Fallbeispiele aus der großen Menge ähnlicher Momente. Die Dokumentation greift jedoch nicht nur Story-Elemente auf, sondern zeigt auch Hitchcocks eindrucksvolle Arbeitsweise: “Escape from usual ways to film scenes” oder “Escape the predictable way of doing things” sind die Leitsprüche, denen MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK in essayistischem Stil anhand verschiedener Themen nachgeht und dabei Lust darauf macht, erneut in Hitchcocks Filmwelt einzutauchen.

(Frieder Brehm)

ETILAAT ROZ (Quelle: DOK.fest München)

ETILAAT ROZ (Afghanistan 2022, R: Abbas Rezaie)

Es ist Mitte August und die US-Amerikaner verlassen Afghanistan, während die Taliban Kurs auf Kabul nehmen. Gebannt und voller Furcht verfolgen die Redaktionsmitglieder der Zeitung “Etilaat Roz” die Nachrichten zum Vorrücken der Taliban, die keinen Hehl daraus machen, dass unabhängige Journalist:innen eine Zielscheibe für sie sind. Regisseur Abbas Rezaie, selbst Redakteur der unabhängigen Zeitung, begleitet seine Kolleg:innen in dieser gefährlichen Zeit des Übergangs. Hält die Kamera unablässig auf das sorgenvolle Gesicht des Herausgebers Zaki Daryabi. Wie gefährlich die Lage für die Journalist:innen ist, zeigt sich schon wenig später als zwei Kollegen von einem Trupp Taliban verprügelt werden. In den ersten Tagen ist Rezaie in der Redaktion mit seiner Kamera immer am Ball, interviewt die Kolleg:innen und filmt sie beim Packen sowie bei den ungelösten Überlegungen, wie das Archiv gerettet werden kann. Von Tag zu Tag erscheinen weniger Teammitglieder, das Erscheinen der Zeitung längst eingestellt. Nur wenige aus dem Team haben einen der begehrten Plätze auf den Evakuierungslisten erhascht, alle suchen verzweifelt nach Wegen ins Ausland. Der Stress und die Sorge um die Mitarbeiter:innen ist Daryabi ins Gesicht geschrieben, wenn er im Laufe des September immer noch täglich im Büro erscheint, um den Transfer der Zeitung ins Exil zu organisieren. Dass er oft den Tränen nahe ist, verbirgt er nicht, und er weint auch, als am 2. Oktober schließlich Schluss ist. Mit seiner Familie tritt er im Auto die Fahrt ins rettende Ausland an, von wo aus er immer noch hofft, Kolleg:innen retten zu können.

Rezaies Dokumentation ist in ihrer Unmittelbarkeit erschütternd. Wir sehen live dabei zu, wie Existenzen zerstört werden und sind Zeuge der emotionalen Erschütterung, die das bei den Redakteur:innen auslöst. Der Film ist ein herausragendes Dokument des Unrechts, das in Afghanistan geschehen ist und immer noch geschieht. Die zuweilen verwackelten Bilder und den knarzigen Ton verzeiht man da gerne.

(Frauke Haß)

EREN (Quelle: DOK.fest München)

EREN (Deutschland 2023, R: Maria Binder)

Seit mehr als 30 Jahren kämpft die türkisch-kurdische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Eren Keskin für Pressefreiheit, Demokratie und die Aufarbeitung staatlicher und sexualisierter Gewalt, die das türkische Regime bis heute an seinen Bürger:innen ausübt. Ihre Klient:innen sind vielfältig: Politische Gegner:innen, Kurd:innen, Frauen, Mitglieder der LGBTQ+-Community und viele andere kommen in ihr Büro und erzählen Eren von Übergriffen durch die Polizei oder das Militär. Über mehrere Jahre hinweg wurde sie von Regisseurin Maria Binder, die sich selbst für Menschenrechte einsetzt und bereits mit Filmen wie TRANS X ISTANBUL (DE 2014) Aufsehen erregte, bei ihrer anscheinend nie endenden Arbeit begleitet.

Das Resultat ist EREN, ein eindrucksvoller und zugleich tief berührender Einblick in Keskins ineinander verschwimmendes Berufs- und Privatleben zwischen Aktenstapeln, Gesprächen mit Klient:innen, Dienstreisen und Besuchen bei ihrer Mutter Fatma. Wie ein Damoklesschwert schwebt dabei ständig die drohende Festnahme über ihr. Mehr als 100 Verfahren wurden bereits gegen Eren eröffnet, dabei werden ihr Vergehen wie die Beleidigung des türkischen Präsidenten sowie die ‚Herabwürdigung der Türkischen Nation, der Institutionen und Organe des Staates‘ vorgeworfen. Doch obwohl sie sich selbst durch ihr Handeln in Gefahr bringt und sich frustrierend wenig in der Türkei verändert, kämpft Eren weiter für die Rechte der Menschen in ihrem Land. Wenn es denn sein muss, so sagt sie, auch aus dem Gefängnis.

(Katharina Popp)

AFRICA, I WILL FLEECE YOU (Quelle: DOK.fest München)

AFRICA, I WILL FLEECE YOU (Frankreich/Kamerun/Deutschland 1992, R: Jean-Marie Teno)

AFRICA, I WILL FLEECE YOU (OT: Afrique, je te plumerai) des in Kamerun geborenen, in Frankreich lebenden Filmemachers Jean-Marie Teno ist Teil der Retrospektive des seit zehn Jahren bestehenden Festival-Schwerpunkts DOK.network Africa. Er ist einer von sechs Filmen, die Kurator:innen aus West-, Ost- und Südafrika ausgewählt haben, um fünf Jahrzehnte Filmschaffen auf dem afrikanischen Kontinent zu präsentieren.

AFRICA, I WILL FLEECE YOU gibt Einblicke in die tiefgreifenden kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen des Kolonialismus auf Kamerun und seine andauernden Folgen für das Leben der Menschen. Der Film beginnt mit der Veröffentlichung eines offenen Briefes an Präsident Biya im Jahr 1990, in dem er zu einer nationalen Konferenz aufruft – und mit der sofortigen Verhaftung des Verfassers. Im weiteren Verlauf zeichnet der Film Möglichkeiten des Widerstands gegen fortbestehende koloniale Strukturen nach, zu welchen auch das Bewahren des historischen Gedächtnisses gehört. So besucht der Filmemacher gemeinsam mit einer befreundeten Journalistin Bibliotheken der Hauptstadt Yaoundé und fragt dort nach kamerunischer Literatur. Dabei finden sie Regale voller europäischer Bücher vor, wo sie sich Bücher kamerunischer Autor:innen erhofften, aber auch einen kamerunischen Bibliotheksleiter, wo sie einen Franzosen erwarteten. Während sie durch die Regalreihen streifen, singt die Stimme aus dem Off leise das französischsprachige Kinderlied „Aloutte“, das beschreibt, wie ein Vogel gerupft wird. Auf „Aloutte, je te plumerai“ bezieht sich auch der Filmtitel, der das Malträtieren des afrikanischen Kontinents durch die Kolonialmächte kommentiert.

In der Komplexität des Films liegt auch eine Schwierigkeit: Die formalen Sprünge – zwischen kolonialem Archivmaterial, Aufnahmen zeitgenössischer Alltagsszenen oder historischer Ereignisse, fiktionalen Elementen, Interviews, Mitschnitten von Fernsehauftritten und vielem mehr – ebenso wie die Zeit- und Themensprünge wirken oft unzusammenhängend und schwer verständlich. Zugleich erscheint es jedoch auch als angemessene Form, um vielseitige Einblicke in eine postkoloniale afrikanische Gesellschaft zu geben, die mit Brüchen und Einschnitten in ihrer Geschichte umgehen muss.

(Naima Wagner)

AND THE KING SAID, WHAT A FANTASTIC MACHINE (Quelle: DOK.fest München)

AND THE KING SAID, WHAT A FANTASTIC MACHINE (Schweden 2022, R: Axel Danielson, Maximilien van Aertryck)

Das Phänomen der Massenkommunikation könnte besser nicht beschrieben werden als in dieser feuerwerkartigen Collage bewegter Bilder. Die Flut medialer Erzeugnisse, die uns 200 Jahre nach der Entstehung der weltersten Fotografie von allen Seiten umgibt, uns begeistert, mitreißt und mithin auch überfordert, packt das Regieduo Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck bestens unterhaltend auf die Leinwand.

Dabei wissen wir doch alle längst, was der Film – König Edward VII zitierend – im Titel trägt: Die Kamera, diese „fantastische Maschine“, hat eine rasante Entwicklung hingelegt, mit der wir uns quasi selbst überholt haben. Dass das Programm der vergangenen Berlinale, auf der der Dokumentarfilm bereits vom Publikum gefeiert wurde, eine „sinnbildliche Studie des Kinos“ verspricht, fühlt sich am Ende dieser 87 Minuten allerdings wie ein nicht eingelöstes Versprechen an. Viel mehr zeigt der Film auf eindrückliche Weise die Faszination, die Bilder auslösen können – und dass diese Faszination auch im Zeitalter von Smartphones, GoPros und Co noch eine historische Camera Obscura auslösen kann, erfreut das cinephile Herz zutiefst.

(Marie Brüggemann)