Filmblog // 72. Internationales Filmfestival Mannheim Heidelberg

Vom 16. bis 26. November bringt das Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) die Werke junger Regisseur:innen aus der ganzen Welt an Rhein und Neckar – und das bereits zum 72. Mal. Die DFF-Redaktion hat sich vorab schon einmal ein paar Filme angeschaut und stellt sie hier vor. 

Family Portrait (US 2023. R: Lucy Kerr) 

Filmstill aus FAMILY PORTRAIT (Quelle: IFFMH)

Dieser sehr seltsame, nicht sehr lange Film spielt auf dem idyllischen, am Fluss gelegenen Gelände eines Ferienhauses in Texas, in dem sich eine weit verzweigte Familie – offenbar wie jedes Jahr – versammelt hat. Weihnachtsmützen deuten auf den Anlass der regelmäßigen Zusammenkunft hin, bei der auch stets ein Familien-Gruppenfoto gemacht wird. Doch an diesem Vormittag ist alles anders. Denn Katy will mit ihrem Freund Oleg bald abreisen, aber natürlich nicht, bevor nicht das Foto gemacht ist. Doch dann ist ihre Mutter plötzlich verschwunden. Ohne „Mom“ kann das Foto nicht gemacht werden. Während es niemanden zu interessieren scheint, dass „Mom“ nicht mehr da ist, macht sich Katy auf die Suche, läuft ziellos auf dem weitläufigen Gelände herum, klettert durchs Unterholz und taucht im Fluss – ohne eine Spur der Mutter zu finden. Auf der Tonebene baut sich durch ein dröhnendes Surren und Sausen zunehmend eine Bedrohung auf, während der Rest der Familie nach Katys Rückkehr immer noch desinteressiert an Foto und Verschwinden seinen kleinen Beschäftigungen nachgeht: Basketball, Tennis, Bodenturnen oder einfach nur Plaudern. Schließlich scheint sich die Familie doch zu versammeln: Während die Kamera in Übergröße Katys verlorenen Gesichtsausdruck einfängt, ziehen die Familienmitglieder an ihr vorbei – alle in eine Richtung. Wird das Foto nun doch gemacht? Der Prolog des Films scheint dies anzudeuten. Abrupt endet der Film, nachdem die Kamera einem kleinen Jungen dabei zugesehen hat, wie er sich in einem hohlen Baum versteckt (um das Gruppenbild zu schwänzen?) und lässt die Betrachter:innen des Films relativ ratlos zurück. Frauke Haß

EVIL DOES NOT EXIST (Japan 2023. R: Ryūsuke Hamaguchi)

Filmstill aus EVIL DOES NOT EXIST (Quelle: IFFMH)

Der Film beginnt mit Bildern der Baumkronen vor einem winterlich-grauen Himmel, untermalt von melancholischer, klassischer Musik. Die ersten Filmminuten führen ein in den Alltag Takumis und seiner Tochter Hana, die abgeschieden im Wald leben. Eine Weile betrachten wir dieses Leben, in dem es keine Eile zu geben scheint: Durch den Wald streifen, Tierspuren betrachten, wilden Wasabi pflücken, Holz hacken.

Dann nimmt der Film eine Wendung und Unruhe kommt in die Dorfgemeinschaft. Wieder Bilder des Waldes: In einem mit Feelgood-Musik unterlegten Werbevideo für eine geplante Glamping-Anlage sollen sie für einen Sehnsuchtsort für Städter:innen stehen. Gezeigt wird das Video von einem Mann und einer Frau einer Agentur aus Tokyo, die in den kleinen Vorort gekommen sind, um das Projekt den Dorfbewohner:innen vorzustellen. Diese sind besorgt angesichts der Folgen für das Ökosystem und die Wasserversorgung. „Wasser fließt immer bergab“, erklärt der Dorfvorsteher. Es geht um die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, für andere Menschen ebenso wie für die Natur.

Interessant an Hamaguchis in gewohnt bedächtigem Tempo erzählter Geschichte ist auch die Entscheidung, keine klare Position zu beziehen. Wir lernen die beiden Personen aus Tokyo nicht nur als Eindringlinge kennen, sondern als Menschen mit Sorgen und Wünschen. Auch der Ort wird nicht als Idylle verklärt. Wie schon in dem Oscar®-prämierten DRIVE MY CAR sind es auch in EVIL DOES NOT EXIST, der bei den Filmfestspielen in Venedig den Großen Preis der Jury gewann, die ruhigen Bilder, die langen Einstellungen und das unaufgeregte Erzählen, die den Film zu einem Erlebnis irgendwo zwischen Meditation und Langeweile machen. Naima Wagner

SÜDSEE (Deutschland 2023. R: Henrika Kull) 

Filmstill aus SÜDSEE (Quelle: IFFMH)

Träge, ereignislose Sommertage verbringen Anne und Nuri auf der Terrasse eines Apartments in Israel, unweit Jerusalems. Das Apartment gehört Nuris Eltern, er ist Israeli, sie Deutsche, beide leben in Berlin. Die Sonne lässt alles grell erscheinen, die Terrasse, die umliegende Beton-Tristesse. Das Einzige, was hier annähernd Südseefeeling verbreitet, ist das wohltuende Türkisblau des Swimmingpools. Man möchte die Protagonistin ständig daran erinnern, Sonnenschutz aufzutragen, sie denkt zum Glück selbst daran. Anne und Nuri reden – über sich, ihre Sicht auf die Welt, auf Deutschland, auf Israel, die deutsche und die jüdische Lebensweise. Von nebenan dröhnt unablässig der Lärm einer Baustelle in die Atmosphäre, in weiterer Entfernung explodieren Flugkörper – der Iron Dome wehrt Raketen aus Gaza ab. Nur selten wird der Schauplatz gewechselt, zum Beispiel, wenn die beiden, die sich gerade erst kennenlernen, durch die trockene Weinberge-Landschaft spazieren oder nebeneinander im Bett liegen. Zwischendurch kommt Romi, eine Freundin, zu Besuch und unterbricht die Zweisamkeit, von der wir bis zum Ende des Films nicht wissen, ob Anne und Nuri sie überhaupt genießen. Sympathie? Anziehung? Vielleicht aber doch auch Abneigung? Was sich zwischen den beiden entwickelt, werden wir nicht erfahren, wir werden hier nur mal eben Zeug:innen zweier ziemlich ereignisloser Tage in einem Israel, in dem ein bedrohlicher, beständiger Konflikt noch hintergründig vor sich hin wabert – in ständiger Erwartung, dass etwas passiert.  Marie Brüggemann 

OKTHANKSBYE (Niederlande 2023. R: Nicole van Kilsdonk) 

Filmstill aus OKTHANKSBYE (Quelle: IFFMH)

Sieben Filme sind in diesem Jahr in der Sektion Kinderfilmfest des IFFMH zu sehen, einer von ihnen ist OKTHANKSBYE: Der Film der niederländischen Regisseurin und Drehbuchautorin Nicole van Kilsdonk erzählt eigentlich „nur“ die Geschichte zweier Freundinnen auf einem Roadtrip aus den Niederlanden nach Paris – nur handelt es sich bei den Protagonistinnen um zwei gehörgeschädigte Teenager, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Jamie ist schüchtern, als Gebärdensprachen-Zeichen für ihren Namen hat sie einen unauffälligen Wink mit der rechten Hand gewählt. Erst vor kurzem ist sie auf ein Internat für Gehörgeschädigte gekommen, wo sie auf die selbstbewusste Imane trifft, deren Namenszeichen wiederum ein Schlag mit der linken Hand auf den angewinkelten rechten Arm ist. Als Jamies Oma, zu der sie eine besondere Beziehung hat und die in Paris wohnt, stürzt und ins Krankenhaus muss, will Jamie so schnell wie möglich zu ihr. Doch ihre Familie ist bereits auf dem Weg in die französische Hauptstadt und hat keinen Halt in Jamies Internat eingeplant. 

Für Jamie heißt das: allein mit einem der Betreuer das Wochenende im Internat verbringen. Imane hat jedoch andere Pläne für die beiden und überredet Jamie, ihrem Lehrer eine Lüge zu erzählen, damit sie gemeinsam auf eigene Faust nach Paris fahren können. Auf dem Weg dahin werden sie mit zahlreichen Barrieren konfrontiert, die ihnen die Welt der Hörenden in den Weg legt. So beginnt eine aufregende Reise mit vielen Zufallsbegegnungen, bei denen die beiden nicht nur einander und sich selbst besser kennenlernen, sondern auch an ihren Herausforderungen wachsen. Die Repräsentation gehörloser und gehörgeschädigter Personen in OKTHANKSBYE ist erfrischend und tiefgehend: Es ist selbstverständlich, dass die Protagonistinnen gehörlos sind und ihre Perspektive erzählt wird. Es gibt wenig gesprochenen Dialog, stattdessen kommunizieren viele Charaktere fast ausschließlich in Gebärdensprache miteinander. Als hörende Person lernt man dabei viel über die positiven wie negativen Erfahrungen gehörloser Menschen, ohne dass der Film dabei zu didaktisch wird und seine Charaktere aus dem Fokus verliert. Bei OKTHANKSBYE lohnt es sich, genauer hinzuschauen! Katharina Popp