Filmblog // IL BUCO (Kinostart 10. November)

Von Selina Wingefeld

Filmstill aus IL BUCO. Zwei weiße Kühe strecken ihre Köpfe über den Abgrund.Eine Gruppe junger Forscher:innen dringt Anfang der 1960er Jahre in die unberührte Landschaft des Pollino ein, einem Gebirgszug im Hinterland Kalabriens mit einer kärglich lebenden Bevölkerung. Im Gegensatz zum Süden Italiens boomt im Norden die Wirtschaft. Sinnbildlich dafür steht eine Szene zu Beginn des Films, Found Footage in Schwarzweiß, die TV-Aufnahmen vom eben fertig gestellten Pirellone in Mailand zeigen, dem größtem Hochhaus der Stadt. Kontrastierend dazu zeigt Regisseur Michelangelo Frammartino in seinem komplett dialogfreien Werk in der Folge bezaubernd schöne Aufnahmen der unberührten Natur Kalabriens.  

Eine große Spalte in der Erdoberfläche zieht die Forscher in den Süden – der Abgrund von Bifurto. Während die Kinder im nahen Dorf begeistert mit dem Equipment der Forschergruppe spielen, interessieren sich die Erwachsenen herzlich wenig für die Fremden, die durch ihr Dorf marschieren. Eine Tanzshow im Fernsehen auf dem Dorfplatz fesselt die Aufmerksamkeit aller. 

Bei ihrer Ankunft am Bifurto am nächsten Tag werden die Forscher:innen von grasenden Kühen und Pferden in Empfang genommen. Ein uralter Hirte ist der einzige Zeuge der Forscherinvasion aus dem Norden. Sein Leben verwebt Frammartino in der fortschreitenden Handlung auf anrührende Weise mit dem Vorstoß der Höhlenforscher:innen in der Tiefe. 

Die Forschergruppe dringt immer weiter in die Tiefe vor. Um ihr Ausmaß zu erfassen, lässt sie erst Steine in die Tiefe fallen, später müssen die entzündeten Seiten einer Illustrierten dazu herhalten, den Abgrund auszuleuchten. So gelangt neben Sophia Loren auch der damalige amerikanische Präsident John F. Kennedy in die Höhle. Im Schein des kurzen Feuers erstrahlen die Wände der Schlucht in einem warmen orange-roten Ton. Dann klettern die ersten Menschen hinab. Mithilfe endlos langer Strickleitern hangeln sie sich Meter für Meter hinunter, überqueren einen kleinen Teich mit einem Schlauchboot, balancieren auf schmalen Felsvorsprüngen über überfluteten Wegstücken, zwängen sich durch schmale Felsschlünde. Sie gelangen fast 700 Meter in die Tiefe, dann ist plötzlich Schluss. Es geht nicht mehr weiter. 

Filmstill aus IL BUCO. Drei Personen sind in Arbeitsanzügen und mit Stirnlampen in einer Höhle zu sehen. Die ruhigen Naturbilder dieses Films, sein Verzicht auf Dialoge und Musik machen ihn so besonders und sehenswert. Während die Forscher in der Höhle immer weiter vorankommen, kommen wir im Kino den Hirten in ihrer ärmlichen Hütte ganz nahe und lernen ihr von der Natur geleitetes und von harter Arbeit geprägtes Leben kennen, was einen scharfen Kontrast zum zu Beginn gezeigten, geschäftigen Wirtschaftsleben in Norditalien setzt. Dennoch bleibt die Hochhausszene am Anfang seltsam unverbunden mit dem Rest des Films – ein Fremdkörper. 

Der Verzicht auf Dialoge verwirrt zunächst, da man immer darauf wartet, dass einer der Protagonisten etwas sagt. Dennoch konzentriert sich dadurch die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche: das Vorgehen der Forscher, die Lebensweise der Bevölkerung in der Region, die Geräusche der Natur. Frammartino hat mit IL BUCO den Menschen und der Natur Kalabriens ein filmisches Denkmal gesetzt – mehr noch als den heldenhaften Höhlenforscher:innen, deren sensationelle Entdeckung 1961 kaum Beachtung fand. 

Der offizielle Start in den deutschen Kinos von IL BUCO (Italien/Deutschland/Frankreich 2021. R: Michelangelo Frammartino) ist am Donnerstag, 10. November 2022. Im Kino des DFF läuft der Film beim italienischen Filmfestival Verso Sud am Mittwoch, 7.12., um 18 Uhr.