In Memoriam Barbara Baum: Erinnerungen an eine Lebensfreundin

von Hans-Peter Reichmann

Wenn Barbara Baum die Tür ihrer Wohnung im obersten Stock eines Altbaus in Berlin Friedenau öffnete, betrat man eine ganz individuelle, sehr persönliche Welt. Jeder Gegenstand, ob Möbel, Bild oder Kleidungsstück, hatte darin seine eigene (Film-)Geschichte – nichts war hier nur Dekorationsobjekt, denn jedes noch so kleine Accessoire in diesem Fundus war Beleg und Ausgangspunkt Baum’scher Gestaltungsideen oder detailreicher Erzählungen. Dieses liebenswürdige Sammelsurium, an dessen Reichtum und Vielfalt sich der Betrachter, auch beim wiederholten Besuch, nicht sattsehen konnte und in dem immer wieder neue Dinge zu entdecken waren, hütete und pflegte sie gewissenhaft. Zu entdecken gab es vieles: Bücher, Ansichtskarten, Fotografien, edler Nippes, Erinnerungsstücke. Hier die persönliche Widmung von Jeanne Moreau, dort der Schnappschuss mit Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla, in einer Drehpause von DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1978). Dazwischen Filmpreise, Broschüren und ein Strass-Diadem, das einer Zwanziger-Jahre-Revue entliehen schien.

Im Zentrum dieser wundersamen Welt stand jedoch Barbara Baums Liebe zu Stoffen. Stets war sie von ihnen umgeben – von den Stoffen der Leinwanderzählungen ebenso wie von den Materialien, mit denen sie diese Filmgeschichten einzukleiden pflegte. Betrat man ihren Atelierraum am Ende des Flurs, so stand man nicht nur in einem Stofflager, sondern förmlich in einem bunten Kleiderwald. Einige der textilen Objekte darin hingen sorgsam an Kleiderständern, andere hatten auf einer verzierten, historischen Schneiderpuppe Platz gefunden. Barbara Baum gestand, dass sie sogar in Stoffen denke: Aus diesen zauberte sie Kostüme, mit denen sie vielen Film- und Fernsehproduktionen ihre ganz eigene Handschrift, ihre ganz besondere Qualität verlieh.

„Auch der tollste Schneider kann aus dem falsch gewählten Material kein gutes Kostüm anfertigen.”

Die Suche nach dem richtigen Gewebe zur Umsetzung ihres Entwurfs war ihr essenziell, denn die „Kostüme leben von dem Material, aus dem sie hergestellt werden”. Schnell wurde deutlich: Sie war eine Erzählerin mit Textilien. Ihre Aufgabe als Kostümbildnerin war es, Schauspieler:innen einzukleiden, um authentische Figuren zu schaffen, ob sie nun Rang und Besitzverhältnisse der Figuren offenlegte oder deren Sehnsüchte, Ansprüche und Widersprüche verarbeitete. Dabei entwarf sie nach (film-)historischen Vorbildern, aber stets mit einem zeitgenössischen, modernen Blick. Bei ihr war das Authentische eine Frage des Blickwinkels auf eine vergangene Zeit. Sie interpretierte Vergangenheit, imitierte sie nicht. Das spiegelte sich auch in ihrer Arbeitsweise wider.

Nach einer Schneiderlehre und einem Modedesign-Studium kam Barbara Baum als Autodidaktin zu Film und Kostümbild. Ihre erste Filmerfahrung sammelte sie zu Beginn der 1970er-Jahre bei Peter Lilienthal und Peter Fleischmann – Regisseure des Neuen Deutschen Films, die auf sehr reduzierte, möglichst originale (Alltags-)Kostüme Wert legten. Ihre praktische Ausbildung half Baum dabei auf dem Weg vom ersten Entwurf bis zum fertigen Kostüm. Den Rest bezeichnete sie als Learning by Doing. Natürlich ist auch Fantasie wichtig, aber ein Kostüm mit ‘Filmcharakter’ zu entwerfen, das war und bleibt für sie das Ergebnis vieler Arbeitsschritte.

Deshalb studierte sie die Drehbücher, analysierte, sezierte regelrecht jede einzelne Rolle. Sie beobachtete die Schauspielerinnen und Schauspieler gründlich, denn sie wollte genau wissen, wer die jeweilige Rolle spielte. So fand sie die passenden Stoffe für deren Kostüme und prägte, neben Kamera und Szenenbild, zu großen Teilen die Ästhetik des späteren Films.

Wenn sie nicht gerade auf Recherchereisen, bei Anproben oder Dreharbeiten war, diente ihr die Wohnung als Lebensmitte, Atelier und Arbeitsarchiv zugleich. Hier hatte die Kostümbildnerin in den vergangenen 40 Jahren recherchiert, exzerpiert, gescribbelt, entworfen, kalkuliert und stets viel kommuniziert. Sprache war für Barbara Baum überaus wichtig, denn mit ihrer Hilfe brachte sie den Menschen ihre Vorstellungen des ‘idealen’ Kostüms näher. Dafür plädierte sie und schöpfte aus ihrem schier unendlichen Reservoir an Erfahrung und Wissen, denn ihr Gedächtnis war phänomenal. Sie erinnerte sich an kleinste Details, Namen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an Geschichten über die lieb gewonnenen Bekannten, Freund:innen und Kolleg:innen, aber auch die skurrilen, eigensinnigen Charaktere der Branche. Sie alle gehörten zu ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrer Kunst. „Das Kostümbild ist der dritte Regisseur”, sagte sie einmal. Wer will dies bezweifeln, präsent wie sie war – im Leben, und bleiben wird, mit ihren Filmkostümen …

Am frühen Abend des 15. April 2023 ist Barbara Baum in einem Berliner Seniorenstift gestorben.