Marlene Dietrich zum 120. Geburtstag

Marlene Dietrich wurde heute vor 120 Jahren in Berlin-Schöneberg geboren. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier einen – leicht gekürzten und leicht variierten – Text, den Hans-Peter Reichmann bereits 1995 für die Zeitschrift epd Film veröffentlichte:

(…) Als wäre es möglich, die eigene (…) körperliche Vergänglichkeit zu verhindern und mit den Dingen zu überleben, hat sie gesammelt. Genauer gesagt, nichts hat sie weggeworfen, was ihr erinnerungswürdig schien, auch nicht Intimes und Peinliches von sich und anderen. Und dies war eine Menge. Nichts hat eine Ordnung, die Zusammenhänge sind willkürlich, (…) zufällig beim Verstauen entstanden. Verweise gibt es nicht, nur die handschriftlichen Hinweise auf Umschlägen und beigefügten Zetteln. Aber auch die sind mit Vorsicht zu behandeln, müssen kontrolliert und nachrecherchiert werden. Denn die Dietrich hat trotz aller Sammelwut bis zuletzt versucht, die Legende zu kontrollieren, an der sie ihr ganzes Leben mit Sorgfalt gearbeitet hat. Die Aufarbeitung des Nachlasses ist wie Wundertüten auspacken, es gibt Nieten, viele Puzzleteile, und ab und zu findet sich eine Überraschung.  (…) Die Erinnerungsstücke verschwanden in Umschlägen, Kisten oder übergroßen Schrankkoffern in Depots in Los Angeles, New York, London, Paris und Genf. Nicht wenige Behältnisse lagerten dort verpackt seit Jahrzehnten und wurden erst (…) nach dem Tod von Marlene Dietrich (am 6. Mai 1992 in Paris) geöffnet.

Im Oktober 1929 fanden die Probeaufnahmen für DER BLAUE ENGEL statt. Marlene Dietrich, die Josef von Sternberg in der Revue Zwei Krawatten aufgefallen war, (…) sang You are the cream in my coffee und bekam den Vertrag für die Rolle der Lola Lola neben dem Star Emil Jannings. Zwischen November 1929 und Januar 1930 wurde in den Neubabelsberger Ufa-Studios gedreht. Im Februar, noch bevor DER BLAUE ENGEL in den Kinos lief, engagierte das Berliner Büro der Paramount den neuen Star für die USA. Am Tage der Uraufführung ihres letzten deutschen Films machte sie sich auf den Weg nach Hollywood, wo sie am 12. April 1930 eintraf.

Josef von Sternberg war Marlene Dietrichs Entdecker. Er entfesselte ihre schauspielerischen Fähigkeiten und „optischen Werte“, nutzte alle künstlichen und natürlichen Lichtquellen, um sie nach seinen Vorstellungen optimal ins Bild zu setzen. Bereits am 14. November 1930 hatte MOROCCO, ihr erster US-amerikanischer Film Premiere. Und die Zeitungen schrieben über „Die Neue aus Deutschland“, über „Paramounts Antwort auf die Garbo“ und „Die große Entdeckung des Jahrhunderts“. Die Dietrich war geboren. Es folgten noch fünf weitere Filme mit dem Regisseur, von dem sie auch privat stark beeinflusst war. Wie stark, sagt die Widmung auf einer Fotografie vom Mai 1931: „Meinem Schöpfer von seinem Geschöpf. Marlene“.

Auf von Sternberg folgten viele. Von allen finden sich Spuren im Nachlass. Legionen bekannter und weniger bekannter Zeitgenoss:innen scheinen mit der Dietrich zumindest korrespondiert zu haben, privat oder geschäftlich: Ernst Lubitsch, Billy Wilder, Fritz Lang, Willi Forst, Orson Welles, Charles Boyer, Maurice Chevalier, Noël Coward, John Gilbert, Brian Aherne, Yul Brynner, Jean Cocteau, Claire Walldorff, Karl Lagerfeld, Lilli Palmer, Hans Jaray, Hildegard Knef, Burt Bacharach, David Bowie und Udo Lindenberg. Ernest Hemingway nannte sie „Kraut“, er unterschrieb seine Briefe mit „Papa“. Erich Maria Remarque schrieb ihr hunderte von Briefen, Postkarten und Grußkärtchen. Für ihn war sie „Mein geliebtes Puma“. Douglas Fairbanks Jr. nannte sie „Dushka“, Jean Gabin „Mon Ange“, „Ma vie“ und „Ma grande“. Es findet sich Post vom damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins, Willy Brandt, aus dem Weißen Haus und dem Elyséepalast (…).

Marlene Dietrichs Nachlass ist sicherlich eine der größten Privatsammlungen eines Weltstars. (…)

Was ihn so einzigartig macht, ist die Materialfülle. So findet sich beispielsweise unter den Textilien nicht ein Exemplar jenes Kleides, sondern gleich zehn verschiedene. Mehr als 3.000 textile Objekte hat die Diva hinterlassen: Film- und Showkostüme, Privatgarderobe, Taschen, Schuhe, Hüte, Handschuhe … Federboas. Mit Etiketten der großen Hollywood-Kostümbildner Jean Louis, Travis Banton oder Edith Head, von Chanel, Balenciaga, Balmain, Courrèges, Dior, Knize, Elsa Schiaparelli bis Ungaro.

Auf den meisten der 15.000 Fotos im Nachlass aus den Jahren 1904 bis 1992 steht ein Motiv im Mittelpunkt: Marlene Dietrich. „Ich bin zu Tode fotografiert worden“, hat sie zu Maximilian Schell gesagt, aber Opfer der Fotografen war sie nie. Im Verhältnis zur Masse der Ablichtungen befinden sich im Nachlass nur wenige unveröffentlichte Fotografien. Diese aber haben vielfach noch die von Marlene Dietrich eigenhändig ausgeführten Retuschen an unvorteilhaften Stellen. Zu den Werk- und Szenenfotos, den Aufnahmen der Showauftritte, den Privat- und Familienfotos und den zahllosen Starpostkarten kommen noch hunderte gerahmte und ungerahmte Porträts mit persönlichen Widmungen der Freunde und Liebhaber, der weiblichen wie der männlichen.

Im Nachlass gibt es 80 Koffer, aus denen sie über Jahrzehnte lebte, von schrankgroß bis handlich klein. Hutschachteln und Beautycases, viele noch beklebt mit den Labels der First Class Hotels aus aller Welt, und alle tragen sie die Initialen „M.D.“. (…) Mehr falscher als echter Schmuck (der echte war bereits zu ihren Lebzeiten in Auktionskatalogen zu sehen). (…) Entwürfe zu den legendären Kostümen, Film- und Showplakate, Grafiken, Zeichnungen und Gemälde. Etwa 2.500 Tonträger. Möbel, darunter das ehemals weiße Chaiselongue aus ihrer Paramount-Garderobe. Und viele Dinge des Alltags.

Genau 2.126 Meter Amateurfilme auf 16 mm geben kurze, bewegte Einblicke in das Privatleben: Familienurlaub mit ihrer Tochter Maria und ihrem Ehemann Rudi Sieber im Salzburger Land. Mit Douglas Fairbanks Jr., ebenfalls im Österreichischen; er trägt Lederhosen, sie ein Dirndlkleid. Josef von Sternberg und sein Star in Venedig. Ausfahrt mit dem Paddelboot auf der Themse. Aufnahmen am Meer, in Cap d’Antibes, kurz lächelt der junge Kennedy in die Kamera, auch Erich Maria Remarque ist zu sehen. Mercedes de Acosta, eine enge Freundin, beim Segeln. Ein Ausritt in Westernmanier mit Jean Gabin. Eine Collage vom unbeschwerten Leben des wohlhabenden Hollywoodstars auf Europavisite Mitte der dreißiger Jahre.

(…)Der umfangreichste Teil des Nachlasses ist Schriftgut. Geschätzte 300.000 Blatt beschriebenes und bedrucktes Papier. Tausende Telegramme und Briefe. (…) Schulhefte aus den Jahren 1912 bis 1917 und die Tagebücher von 1911 bis 1926, der Berliner Zeit, in denen die junge Marlene schwärmerisch die Schauspielerin Henny Porten verehrt und von den vielen Kinobesuchen im Mozartsaal schreibt. „Ich geh sicher noch mal zur Bühne“, notiert sie am 19. Oktober 1917. (…)  Ihre Finanzunterlagen und Rechnungsbelege (…) aus den dreißiger und vierziger Jahren wurden von Rudi Sieber pedantisch geordnet. Beinahe sämtliche Ausgaben aus jenen Jahren sind belegbar, von Hotel- und Restaurantrechnungen über mehrseitige Lieferlisten der Modehäuser bis zu den Reparatur- und Tankquittungen für den Rolls-Royce.

Der Nachlass umfasst Drehbücher zu fast all ihren Filmen, Textbücher zu Theaterstücken und Rundfunksendungen, Treatments und Exposés, Angebote für neue Filmprojekte, Manuskripte, Typoskripte und die Korrekturfahnen ihrer eigenen Bücher, Noten und Ablaufpläne zu den Shows, Memos der zahllosen Telefonate, Notizzettel, Personaldokumente ­– die Geburtsurkunde, die Heiratsurkunde, Pässe, Mitgliedsausweise, Scrapbooks mit Artikeln zu ihren Filmen und Kartons voll mit Presseausschnitten, eine Sammlung mit Dutzenden von Zeitschriften-Covern, auf denen sie abgebildet ist, Theater-, Film- und Showprogramme, Verträge…

Neben dem Glamour und Kult, deren Reliquien sich ohne Mühe finden, neben dem Alltäglichen und Trivialen, ist der Nachlass auch eine Fundgrube für die, die hinter dem Mythos Marlene Dietrich die Person der Zeitgeschichte suchen. Wegen ihrer konsequenten Haltung gegen die Nationalsozialisten und speziell wegen der Auftritte vor amerikanischen Gis in Europa für die United Service Organization (U.S.O.), erhielt sie aus Deutschland bis zuletzt Schmähbriefe und Anfeindungen als „Vaterlandsverräterin“. In den USA erhielt sie als erste Frau die ‚Medal of Freedom‘, den höchsten Orden für eine Zivilperson. (…) Marlene Dietrich wurde am 9. Juni 1939 US-amerikanische Staatsbürgerin.

© Hans-Peter Reichmann (1995/2021). Erstveröffentlicht in epd Film 5/95.