30 Jahre „post-sowjetisches“ Kino

Über die Entstehung einer unmöglichen Liste

von Heleen Gerritsen, Leiterin goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films

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Am 26. Dezember 1991 wird die Sowjetunion offiziell aufgelöst – ihre Existenz auf Papier damit faktisch beendet. Nicht nur in den bis dahin der UdSSR zugehörigen Staaten, sondern auch in großen Teilen des heutigen Europas ging dadurch eine bedeutende Ära zu Ende, die von der kommunistischen Staatsform direkt oder indirekt durchdrungen war: ob im alltäglichen Leben, gesellschaftlich oder auch intellektuell.

Dreißig Jahre später wurde goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films von der Europäischen Filmakademie eingeladen, gemeinsam drei Dekaden post-sowjetischen Kinos zu reflektieren und in den Fokus zu stellen. Filmexpert:innen aus der Region wurden angefragt, sich zu einer Arbeitsgruppe zu formieren und mit der Aufgabe betraut, eine Liste mit 30 Filmen zusammenzustellen, die für 30 Jahre Umbruchszeit repräsentativ sind. Fünf Expert:innen haben die Einladung angenommen und begaben sich auf eine herausfordernde Reise mit ungewissem Ausgang. Alle waren sich von Anfang an im Klaren, dass dies eine fast unmögliche Aufgabe ist. Erschwerend kam hinzu, dass keine:r der Teilnehmer:innen dem Listenprinzip oder der Kanonbildung wirklich etwas abgewinnen kann. Das Endergebnis der Arbeitsgruppe ist somit kein Kanon, sondern ist als eine Einladung gedacht, Werke aus Mittel- und Osteuropa erstmals oder aufs Neue zu entdecken – darunter Klassiker, aber auch Filme, denen bisher deutlich zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Gleichzeitig ist die Liste als eine Aufforderung an das Publikum gedacht: Titel sollen hinzugefügt werden, über die Auswahl diskutiert und nachgedacht werden; und man darf natürlich auch streiten über umstrittene Begriffe wie „Post-Sowjet“ oder „post-sozialistisch“, vor allem in filmhistorischem Kontext. Das Hauptziel dieser absolut unvollständigen, aber hoffentlich inspirierenden Liste ist es schließlich, Aufmerksamkeit für das Kino Mittel- und Osteuropas zu generieren – jetzt und auch in Zukunft.

Mit Entsetzen stellen Sie vielleicht fest, dass große Namen wie Andrzej Wajda, Kira Muratova oder Otar Iosseliani in unserer Auswahl fehlen. Experimentalfilme oder eine surrealistische Animation stehen gleichwertig neben klassischen Spielfilmen und dokumentarischen Werken. Aktuelle Filme der letzten vier Jahre fehlen ganz, und zwar nicht, weil das Niveau in letzter Zeit gesunken ist, sondern da es die Arbeitsgruppe für unmöglich empfunden hat, die Filme bereits jetzt in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen.

Welche Filme machen das Publikum mit dem post-kommunistischen Zeitalter vertraut? Welche gesellschaftlichen Umbrüche werden im mittel- und osteuropäischen Kino sichtbar?  Und welche Ereignisse spiegeln sich in diesem Kino und dessen Filmsprache in den vergangenen 30 Jahren wider? Die Arbeitsgruppe konzentrierte sich auf diese Fragen, ist sich aber auch darüber bewusst, dass bestimmte hochaktuelle Themen und Tendenzen sich nicht repräsentiert finden.

Im Jahr 1919 wurde in Moskau die erste Filmschule weltweit gegründet. Das Medium Film hat sich daher im 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden Teil im ideologischen Rahmen des Kommunismus entwickelt: mal ganz affirmativ und mal ganz in Opposition. Im Jahr 2021 ermutigen wir Sie, die vorgeschlagenen Titel zu erkunden, zu kommentieren und Gedanken zu teilen, während für die Länder und Filmkulturen Mittel- und Osteuropas aktuell ein neues Zeitalter beginnt. Es ist schwer zu sagen, was die Zukunft bringt, wie dieses Zeitalter in Zukunft genannt wird oder welche Merkmale es besonders prägen werden. Eines ist aber klar: Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des sogenannten Ostblocks  definierten das Ende einer Ära – aber nicht das Ende des Kinos!

An der Arbeitsgruppe beteiligten sich Dina Iordanova, Filmhistorikerin, Bulgarien/Schottland (di), Greg DeCuir Jr, Kurator/Autor USA/Serbien (gdc), Hamze Bytyci, Festivaldirektor/Schauspieler/Aktivist, Kosovo/Deutschland (hb), Heleen Gerritsen, Festivalleiterin goEast/Produzentin, Niederlande/Deutschland (hg) Jindřiška Bláhová, Filmhistorikerin/Filmkritikerin, Tschechien (jb), Tristan Priimägi, Filmkritiker, Estland (tp). Vertreter:innen der Europäischen Filmakademie: Ada Solomon, Produzentin, Rumänien und Matthijs Wouter Knol, Geschäftsführer/Direktor der Europäischen Filmakademie, Niederlande /Deutschland

KONEC STALINISMU V ČECHÁCH   The Death of Stalinism in Bohemia
Tschechoslowakei 1991. R: Jan Švankmajer

ORANZHEVYE ZHILETY   Orange Vests
Belarus/Deutschland 1991. R: Yury Khashevatsky

GORILA SE KUPA U PODNE   Gorilla Bathes at Noon
FR Jugoslawien/Deutschland 1993. R: Dušan Makavejev

PRED DOŽDOT   Before the Rain
Mazedonien/Großbritannien/Frankreich 1994. R: Milcho Manchevski

AKUMULÁTOR 1   Accumulator 1
Tschechische Republik 1994. R: Jan Svěrák

SÁTÁNTANGÓ   Satanstango
Ungarn 1994. R: Béla Tarr

TITO PO DRUGI PUT MEĐU SRBIMA   Tito Among the Serbs for the Second Time
FR Jugoslawien 1994. R: Želimir Žilnik

BRAT   Brother
Russische Föderation 1997. R: Aleksei Balabanov

KHRUSTALYOV, MASHINU!   Khrustalyov, my Car!
Russische Föderation /Frankreich 1998. R: Aleksei German Sr.

CHICO   Chico 
Ungarn/Deutschland/Kroatien/Chile 2001. R: Ibolya Fekete

NIKI ARDELEAN, COLONEL ÎN REZERVA   Niki and Flo
Rumänien/Frankreich 2003. R: Lucian Pintilie

RUSSKIY KOVCHEG   Russian Ark
Russische Föderation 2002. R: Aleksander Sokurov

ČESKÝ SEN   Czech Dream
Tschechische Republik 2004. R: Vít Klusák, Filip Remunda

GEORGI I PEPERUDITE   Georgi and the Butterflies
Bulgarien 2004. R: Andrey Paounov

BLOKADA   Blockade
Russische Föderation 2005. R: Sergei Loznitsa

MOARTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU   The Death of Mr. Lazarescu
Rumänien 2005. R: Cristi Puiu

A FOST SAU N-A FOST?   12:08 East of Bucharest
Rumänien 2006. R: Corneliu Porumboiu

GRBAVICA   Grbavica: The Land of my Dreams
Bosnien und Herzegowina 2006. R: Jasmila Žbanić

RENÈ   René
Tschechische Republik 2008. R: Helena Třeštíková

LITHUANIA AND THE COLLAPSE OF THE USSR   Lithuania and the Collapse of the USSR
USA/Litauen 2009. R: Jonas Mekas

AUTOBIOGRAFIA LUI NICOLAE CEAUȘESCU   The Autobiography of Nicolae Ceaușescu
Rumänien 2010. R: Andrei Ujică

ZIMA, UKHODI!   Winter, go Away!
Russische Föderation 2012. R: Elena Khoreva, Denis Klebleev, Dmitry Kubasov, Askold Kurov, Nadezhda Leonteva, Anna Moiseenko, Madina Mustafina, Sofia Rodkevich, Anton Seregin, Alexey Zhiryakov

GRZELI NATELI DGEEBI   In Bloom
Georgien/Deutschland /Frankreich 2013. R: Nana Ekvtimshvili, Simon Gross

HORÍCÍ KER   The Burning Bush
Tschechische Republik/Polen 2013. R: Agnieszka Holland

JUDGEMENT IN HUNGARY   Judgement in Hungary
Ungarn/Deutschland 2013. R: Eszter Hajdú

LEVIAFAN   Leciathan
Russische Föderation 2014. R: Andrey Zvyagintsev

AFERIM!   Aferim! 
Rumänien/Bulgarien/Tschechische Republik/Frankreich 2015. R: Radu Jude

PAPUSZA   Papusza
Polen 2013. R: Joanna Kos-Krauze, Krzysztof Krauze

RODNYE   Close Relations
Lettland/Estland/Ukraine/Deutschland 2016. R: Vitaly Mansky

DRUGA STRANA SVEGA   The Other Side of Everything
Serbien/Frankreich/Qatar 2017. R: Mila Turajlić

Die vollständigen Filmbeschreibungen finden Sie auf der Webseite der European Film Academy.

Eine Auswahl aus der Liste wird 2022 während der 22. Ausgabe von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films (19.–25. April 2022) im Kino zu sehen sein.