Filmblog // 46. LUCAS-Filmfestival: Die Lieblingsfilme der Redaktion

Vom 5. bis 12. Oktober 2023 bringt LUCAS – Internationales Festival für junge Filmfans erneut Filmkunst aus aller Welt für alle von drei Jahren bis 18plus in vier Kinos nach Frankfurt, Wiesbaden und Offenbach. Kurz vor der Eröffnung des vom DFF veranstalteten Festivals schreibt die DFF-Redaktion über ihre Lieblingsfilme in den unterschiedlichen Alterssektionen. 

Wettbewerb »Kids« | Langfilm 

SCRAPPER (Großbritannien 2022. R: Charlotte Regan) 

Filmstill aus SCRAPPER

Georgie ist zwölf Jahre alt, geht jeden Tag zur Schule, macht Hausaufgaben, trifft sich mit Freund:innen und trägt meist das immergleiche Fußballtrikot – soweit also ganz normal. Nur lebt sie seit dem Tod ihrer Mutter allein in einer Sozialbauwohnung in London. Die Anrufe besorgter Sozialarbeiter:innen wimmelt sie mit Sprachnachrichten ab, der ihr der Kiosk-Verkäufer an der Ecke auf ihr Telefon spricht, und hält sich mit kleinen und größeren Diebstählen über Wasser. Als eines Tages plötzlich Jason – gespielt von Harris Dickinson, der durch seine Rollen in Ruben Östlunds TRIANGLE OF SADNESS (SE/GB/US/FR/GR/TR 2022) und Olivia Newmans DER GESANG DER FLUSSKREBSE (US 2022) internationale Bekanntheit erlangte – vor ihrer Tür steht und behauptet, ihr Vater zu sein, will sie ihn verständlicherweise erst einmal nicht in ihr Leben lassen. Wo war er in den letzten zwölf Jahren? Doch langsam lässt sich Georgie auf Jason ein, der manchmal noch viel mehr Kind ist als sie selbst. 

Charlotte Regan gelingt mit SCRAPPER ein gefühlvoller, roher Blick auf eine bei weitem nicht perfekte, aber heilende Vater-Tochter-Beziehung. Wer AFTERSUN (US/GB 2022. R: Charlotte Wells) und EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE (US 2022. R: Daniel Kwan, Daniel Scheinert) mochte, der oder dem wird auch Gewinner des Jury-Preises beim Sundance-Festival gefallen. Das Tolle an SCRAPPER ist dabei, dass er durch das Alter der großartigen Hauptdarstellerin Lola Campbell nicht nur für ein erwachsenes Publikum funktioniert, sondern sich auch junge Kinobesucher:innen in die gemeinsamen Abenteuer von Georgie und Jason hineinversetzen können. Irgendetwas Besonderes scheinen diese Filme an sich zu haben, in denen Eltern Verantwortung für ihr Handeln übernehmen… 

(Katharina Popp) 

DANCING QUEEN (Norwegen 2023. R: Aurora Gossé)

Filmstill aus DANCING QUEEN

E. D. Win ist berühmt, selbstbewusst, ziemlich gut im Hip-Hop und neu an Minas Schule. Und damit all das, was Mina nicht ist. Beeindruckt von seiner Coolness oder vielleicht doch, um ihn zu beeindrucken, meldet sie sich für das Vortanzen eines Hip-Hop-Kurses mit ihm an. Die fehlende Erfahrung macht die nerdige Schülerin mit Trainingsstunden bei ihrer Oma, einer in die Jahre gekommenen temperamentvollen Tänzerin, wett und schafft es in den Kurs.

Zu Minas Glück wird sie vom Kursleiter in ein Zweierteam mit E. D. Win eingeteilt, der davon gar nicht begeistert ist und das auch offen kundtut. Mina beginnt härter zu trainieren, isst zu wenig, lässt ihren besten Freund hängen –  in der Hoffnung, der junge Hip-Hop-Profi ändert seine Meinung. Sie bewegt sich zwischen immer größer werdenden Selbstzweifeln und ihrer Verliebtheit, bis sie im Krankenhaus landet. 

(Siri Scholtes) 

Wettbewerb »Teens« | Langfilm 

SWEET AS (Australien 2022. R: Jub Clerc) 

Filmstill aus SWEET AS

Lust auf ein kurzweiliges Roadmovie mit ein paar zickigen Teenies vor der atemberaubend schönen Kulisse Westaustraliens? Jub Clerks SWEET AS erzählt von der 15-jährigen Murra, die mit drei weiteren sogenannten „Risikokindern“ und zwei Betreuer:innen auf einen Abenteuertrip geschickt wird.  

Kleinkriminelle Delikte wie Shoplifting und Alkoholkonsum, toxische Beziehungsformen oder depressive, suizidale Gedanken: Das sind Merkmale, die die Protagonist:innen zu Risikokindern machen. Bei Murra kommt eine alleinerziehende Mutter hinzu, die mit dem eigenen Leben so wenig zurechtkommt, dass sie das der Tochter nur schwer bereichern kann – viel mehr noch verschwindet sie daraus, wann immer es eng wird, und dann springt Onkel Ian ein. Der ist es auch, der Murra auf die Reise schickt.  

Diese führt an landeshistorisch bedeutsame Orte, an denen die indigenen Jugendlichen sich unter anderem auch mit ihrer Herkunft und Zugehörigkeit auseinandersetzen können. Das Smartphone wird getauscht gegen eine analoge Kamera, und was mit ein paar ziemlich klischeehaften Phrasen („Look at the world through the lense of your camera!“, „This country offers you so much!“) beginnt, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einem Coming-of-Age-Roadmovie in den satten Ocker- und Türkistönen Pilbaras, in denen man an einem grauen Herbsttag förmlich versinken kann. 

Murra findet Gefallen an dem Blick durch die Kameralinse – und an der Reise selbst: Wo zunächst Misstrauen, Vorurteile und Ablehnung herrschen, entstehen bald Freundschaften, wachsen Verständnis, Mitgefühl und Zusammenhalt. Dass man als Zuschauer:in dem sich öffnenden Blick Murras so gut folgen kann und bald erkennt, dass alles eine Frage der Perspektive ist, verdankt sich Katie Milwrights hervorragender Kameraführung, und so wird nach einem aufwühlenden Trip eine Blechhütte am Straßenrand zu einem beneidenswert schönen Zuhause am Meer.  

(Marie Brüggemann) 

SPARE KEYS (Frankreich 2022. R: Jeanne Aslan, Paul Saintillan) 

Filmstill aus SPARE KEYS

SPARE KEYS lässt die Gefühle eines vergangenen Sommers wieder aufleben.

Die 15-jährige Protagonistin Sophie, genannt Fifi, lebt in einer kleinen Wohnung in Nancy mit ihrer neunköpfigen Familie. Die Stadt hat sie nie verlassen und ihr Platz im Hochbett wird zunehmend eng für sie. Die Decke über ihr versucht sie mit Händen und Füßen wegzudrücken, um Raum zu schaffen oder auszubrechen. Die Chance dazu bietet sich ihr, als sie per Zufall erfährt, dass eine Freundin über den Sommer verreisen wird. Mit einem gestohlenen Ersatzschlüssel verschafft sie sich Zugang zum Haus. Doch als sie dort auf den Sohn der Familie trifft, nimmt ihr Sommer eine unerwartete Wendung.  

Jeanne Aslan und Paul Saintillan schreiben mit ihrem gemeinsamen Spielfilmdebut eine Geschichte, in der Fifi selbst den Mittelpunkt bildet. Es ist eine Geschichte ihrer Grenzüberschreitungen und neu entdeckten Hoffnungen. Auf geschickte Weise werden dabei Chaos und Stille kontrastiert, die ihre Erlebnisse gleichermaßen widerspiegeln. Als Gegenstück zu Fifi selbst lernt auch das Publikum den einige Jahre älteren Bruder ihrer Freundin kennen. Zurück in seinem Elternhaus ist er auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die ihn vor seinem Leben in Paris fliehen ließen: Ist er mit seinem Studium auf dem richtigen Weg? Haben seine Freunde sich zu sehr verändert oder nicht genug? Über seine Beziehung zu Fifi nimmt der Film eine persönliche Perspektive ein, die es erlaubt die Frage zu stellen, ob Erwachsene wirklich wissen, was es bedeutet, erwachsen zu sein. 

(Verena Koch) 

Wettbewerb »Youngsters« 

TIGER STRIPES (Malaysia 2023. R: Amanda Nell Eu) 

Filmstill aus TIGER STRIPES

Zaffan lebt in Malaysia. Sie geht auf eine Mädchenschule, nimmt in den Pausen in der Schultoilette TikTok-Tänze auf und albert nach der Schule mit ihren Freundinnen herum. Als sie zum ersten Mal ihre Periode bekommt, ändert sich alles: Zwar muss sie jetzt nicht mehr am Gebetsunterricht teilnehmen, doch ihre Mitschülerinnen schikanieren sie und sogar ihre Freundinnen wenden sich von ihr ab, während sie zugleich mit ihrem sich verändernden Körper kämpft.

TIGER STRIPES vereint alles, was ich am LUCAS-Filmfestival liebe. 

Es ist ein Film, der für eine Geschichte über das Erwachsenwerden neue Ausdrucksmöglichkeiten findet. Gleichermaßen überraschend wie überzeugend ist es, dass die Regisseurin Armanda Nell Eu gerade fantastische und Horror-Elemente des Genrekinos nutzt, um neues Territorium für die Coming-of-Age-Erzählung zu erobern.  

Es ist ein Film, der Perspektiven darauf eröffnet, wie es ist, auf der anderen Seite der Welt aufzuwachsen – ganz anders und doch in mancherlei Hinsicht ganz ähnlich. TIGER STRIPES erzählt von universellen Themen wie Freundschaft, Rivalität und Pubertät und wählt einen dichten Urwald als Kulisse für die Erkundung des eigenen Körpers und der sich verändernden Wahrnehmung. 

Es ist ein Film, der konsequent aus der Sicht seiner Protagonistin erzählt – eine Protagonistin, die klug, eigensinnig und ein bisschen wild (hier wörtlich zu nehmen) ist – und ein junges Publikum ernst nimmt. Und ein Film, den wir sonst vielleicht nicht erleben könnten, wenn das Festival ihn nicht auf unsere Kinoleinwände bringen würde. 

(Naima Wagner) 

HOW TO HAVE SEX (Großbritannien 2023. R: Molly Manning Walker)

Filmstill aus HOW TO HAVE SEX

Zukunftsängste und Unsicherheiten werden an der Club-Garderobe gegen eine kleine Portion Freisein eingetauscht. Doch irgendwann nimmt auch die wildeste Party Nacht ihr Ende. 

Molly Mannig Walker’s HOW TO HAVE SEX riecht nach Axe-Deo, süßen E-Zigaretten und in Schweiß und Alkopop-getränktem Neon-Fummel. Walker, die bereits mit ihrer Kameraarbeit bei SCRAPPER (GB 2023, R: Charlotte Reagan, ebenfalls im LUCAS-Wettbewerb) überzeugte, nimmt uns in ihrem Spielfilm-Debüt mit nach Malia, einem beliebten Party-Domizil auf Kreta. Die einst britische Kolonie wird jährlich von unzähligen Teenies und Schulabgänger:innen überrannt. Halb erwachsen, halb Kind verliert man sich hier zu House Beats und Smirnoff Ice auf der Suche nach dem kurzen Glück. Unter den Feiernden tummeln sich Em, Skye und Tara.

Ein Thema beschäftigt das Trio besonders: Sex. Wie? Mit wem? Wie oft? Mia McKenna-Bruce spielt eine unsichere, verletzliche Tara, die orientierungslos viele “Erste-Male” sammelt und nach Zugehörigkeit strebt. Fein gestochen und völlig unverfälscht zeichnet Walker die oft fragile Gruppendynamik einer dreiköpfigen Mädels Gruppe, in der sich schon jedes Teenagermädchen wiedergefunden hat. Anfangs noch flirrende Partyhymne wird HOW TO HAVE SEX zum klebrigen Fiebertraum, dem sich die Zuschauer:innen, auch während seiner dunkelsten Szenen, nicht entziehen können. 

HOW TO HAVE SEX ist eine tief einschneidende Coming-of-Age-Geschichte, die nicht davor zurückschreckt, die Schattenseiten von Partykultur und sexueller Gewalt so wie Consent in Angriff zu nehmen. Ohne Kompromisse einzugehen, erzählt der Film von schmerzvollen Teenagererlebnissen. Ein Debüt von Regisseurin Walker das in Erinnerung bleibt, und Hauptdarstellerin McKenna-Bruce, die voller Nuance und Feingefühl ihre Hauptrolle verkörpert.

(Jette Evers)