Der Schrecken vom 22. Juli 2011

von Victoria Weskamp

Eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Fotos ist an der Wand zu sehen. 77 sind es, um genau zu sein. Auf jedem einzelnen ist ein Mensch zu sehen, darunter sein Name und sein Alter. Knapp die Hälfte ist noch minderjährig.  Sie alle werden immer das Alter behalten, das dort unter ihrem Bild steht. Was mit ihnen passiert ist? Sie wurden getötet. Von einem Mann, der Hass auf die sozialdemokratische Politik seines Landes hatte. Sein Motiv sei, so sagt er später, das Land vor dem Islam und Kulturmarxismus zu schützen. Multikulturalismus lehnt er strikt ab.

Es hätte die eigenen Kinder treffen können, die eigenen Geschwister oder die eigenen Eltern. Man selbst könnte dort jetzt auf einem der Bilder sein.

Gleich um die Ecke des 22. Juli-Centre im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo ist ein Teil des Anschlags passiert. Dort ist eine Bombe in einem weißen Lieferwagen hochgegangen, dessen Überreste nur ein paar Meter von der Bilderwand entfernt liegen.

Der 22. Juli 2011 hat sich ins Katastrophengedächtnis Norwegens und des Rests der Welt eingebrannt. Auf das rund zwei Stunden währende Massaker hat Attentäter Anders Behring Breivik sich jahrelang vorbereitet. Im Jahr 2006 spielte er täglich mehrere Stunden das PC-Spiel World of Warcraft. Später gründete er sogar extra ein Agrarunternehmen, um möglichst unauffällig mehrere Tonnen Dünger kaufen zu können, die er für den Bau seiner Bombe genutzt hat.

Im Regierungsviertel starben durch die Bombe acht Menschen. Ziel Breiviks war es unter anderem, norwegische Kabinettsmitglieder zu töten, einschließlich den damaligen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg (heute übrigens NATO-Generalsekretär) und Gro Harlem Brundtland (Ministerpräsidentin Norwegens von 1981-1992). Letztere hatte am Nachmittag eine Rede im Feriencamp der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Regierungspartei Arbeiderpartiet auf der Insel Utøya gehalten, die sich rund 30 Kilometer von Oslo entfernt befindet. Nach der Explosion im Stadtzentrum machte sich Breivik auf den Weg dorthin, verpasste die ehemalige Ministerpräsidentin aber. Als Polizist verkleidet gelangte er auf die Insel und begann sofort auf die Teilnehmer:innen und Betreuer:innen des Feriencamps zu schießen. 69 Menschen starben.

Der Anschlag wird unter anderem in den Filmen UTØYA 22. JULI (NO 2018. R: Erik Poppe) und 22. JULI (NO/IS/US 2018. R: Paul Greengrass) rekonstruiert. Beide Produktionen sind schwer zu ertragen. Sie verursachen Schmerzen. Ähnlich, wie die Bilder im 22. Juli-Centre. Nicht nur die Geschichten der Verstorbenen und der Überlebenden werden erzählt, die Filme zeigen auch die Trauer und Verzweiflung der Angehörigen. Der Schock sitzt tief und viele wollen nicht glauben, was passiert ist. Manche sind wütend, andere kämpfen noch Monate nach dem Attentat mit Verletzungen. Beide Werke machen deutlich, wie Überlebende, Trauernde und ganz Norwegen nach dem Terroranschlag Gerechtigkeit, Frieden und Heilung suchen.

Der Film 22. JULI beleuchtet dabei auch die Sicht von Breiviks Verteidiger Geir Lippestad und die des Attentäters. In der zweiten Hälfte nimmt der Film den Gerichtsprozess in den Fokus, der im April 2012 begann. Dort stellen Überlebende sich Breivik und sagen gegen ihn aus. Für Viljar Hansen (im Film gespielt von Jonas Strand Gravli) eine große Herausforderung: Er ist traumatisiert, physisch und mental stark angeschlagen. Seine besten Freunde wurden von Breivik erschossen. Er fühlt sich lange nicht bereit, diesem Mann wieder entgegenzutreten, weil er nicht möchte, dass er sieht, wie sehr ihm der Anschlag wirklich zugesetzt hat. Doch er tut es schließlich, um seinen Teil dazu beizutragen, dass Breivik bestraft wird. Auch Lara Rachid (gespielt von Seda Witt) sagt aus. Sie und ihre Schwester Bano sind als Flüchtlinge aus dem Irak nach Norwegen gekommen. Die Migrationspolitik Norwegens hatte Breivik zuvor mehrmals stark kritisiert. Lara erzählt vor Gericht, wie Bano ihr immer gesagt hat, dass Norwegen ein besserer Ort sei – offener, toleranter und sicherer. All das habe sie am Abend vor dem Anschlag auf Utøya auch gespürt. Doch am nächsten Tag wurde dieses Gefühl schlagartig zerstört und ihre Schwester getötet. Am Ende wird Breivik zu 21 Jahren Haft verurteilt, die höchste Strafe, die ein Gericht in Norwegen verhängen kann. Zwar hat er sich nach dem Anschlag direkt ergeben, er hat aber nie Reue gezeigt.

Titelbild: Filmstill aus 22 JULY (NO/IS/US 2018, R: Paul Greengrass). Verfügbar auf Netflix