Filmblog // WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN (Kinostart 3. November)

Von Frauke Haß 

Latein. Mühsam. Die Mutter kommt heute etwas später, also geht Johann mit dem Vater noch mal eben rüber in dessen „Arbeitshaus“ – Latein üben. Morgen steht eine wichtige Latein-Klassenarbeit an. Es kommt, wie kann es anders sein, zum Streit zwischen dem von Vergil begeisterten Vater und dem unwilligen 13-Jährigen, der das aufgedrängte Reclamheft mit Vergils Aeneis später zornig in die Mülltonne wirft.

Zur Klassenarbeit am nächsten Tag wird es nicht kommen.

Denn Johann ist der Sohn von Ann Kathrin Scheerer und Jan-Philipp Reemtsma, der in der Nacht vor Johanns Lateinarbeit entführt wird. Am nächsten Tag geht es nicht mehr um Latein, sondern darum, den Schrecken zu verarbeiten, die Angst, die urplötzlich in Johanns Leben getreten ist und dieses für die nächsten 33 Tage und darüber hinaus nicht mehr so ganz verlassen wird. Angst und Schuldgefühle. Wegen des Streits. Und, noch schlimmer: Weil Johanns erster Gedanke nach der Eröffnung seiner Mutter ist: Die Klassenarbeit muss ich jetzt nicht schreiben. Wie Menschen wirklich ticken, was für Gefühle einen in Grenzsituationen wirklich überkommen, das zu zeigen, darum geht es Johann Scheerer in seinem Buch und Hans-Christian Schmid in seinem Film, der die Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit der Betroffenen in bewegende Bilder fasst.

Und dann sind da auch noch die Polizeibeamten, die sich im Haus breit machen, mit Johann und seiner Mutter und dem Anwalt Schwenn Tisch und beinahe Bett teilen und in diesen Wochen so manche fatale Entscheidung treffen.

Was während dieser 33 Tage 1996 immerhin gut gelaufen ist, ist die Tatsache, dass die informierten Medienhäuser tatsächlich still hielten und auf Bitte von Polizei und Staatsanwaltschaft eine Berichterstattung über die Entführung unterließen. Dennoch war die Entführung in der realen Welt im Nachhinein ein Medienereignis, über das rauf und runter berichtet wurde.

Reemtsma selbst, der weniger als reicher Tabakerbe, und mehr als Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung (jenes Instituts, das die Wehrmachtsausstellung konzipiert und um die Welt geschickt hat), als Mäzen von Arno Schmidt, als Vermittler zwischen Stadt Hamburg und den Hausbesetzer:innen der Hafenstraße bekannt war und ist, verarbeitete sein Trauma der Entführung in den Monaten danach, in dem er sich in seinem Buch „Im Keller“ mit der durchlebten Angst und der erduldeten Abhängigkeit von den Entführern auseinandersetzte. So gut wie jede:r 1996 erwachsene Mensch in Deutschland erinnert sich an die Entführung, viele lasen „Im Keller“ und machten sich mit den Gefühlen und Gedankengängen des Opfers Reemtsma vertraut.

Doch was die Angehörigen, was sein 13-jähriger Sohn Johann und seine Frau, die Psychoanalytikerin Ann Kathrin Scheerer, in diesen grauenhaften Tagen des Wartens durchmachten, erfuhr die Öffentlichkeit erst, als Johann Scheerer 2018 sein Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ veröffentlichte. Das Buch ist aus der Perspektive des damals 13-Jährigen geschrieben und kommt dem Schmerz der um den geliebten Mann und Vater zitternden Angehörigen sehr nah, ohne gefühlsduselig zu sein.

Hans-Christian Schmids Verfilmung bleibt diesem Ansatz treu und legt einen Film hin, der in seiner Intensität nur schwer zu ertragen ist. Die Anspannung. Das Warten. Der Zorn über die – auch aufgrund von Missgeschicken der Polizei – gescheiterten Geldübergaben. Der Stress des von Justus von Dohnányi grandios dargestellten, auch nicht unfehlbaren Anwalts Schwenn, der die technisch verzerrte Stimme des Entführers nur schwer versteht…. Die Angst. Die Angst. Die anklagender werdenden Briefe des Entführten, der nicht versteht, warum es so lange dauert. Das alles ist im Kino zum Greifen nahe und es greift der Kinobesucherin ans Herz. Ein Vergnügen ist das nicht, aber es ist ein Erlebnis.

Für die fast übermenschliche Gefasstheit Scheerers, von Adina Vetter in atemberaubender Sachlichkeit verkörpert – wenn diese der Realität auch nur annähernd entspricht – kann man nur ungeheure Bewunderung empfinden. Und doch zeigt auch sie Nerven, wenn sie in einem ruhigen Moment plötzlich einräumt: “Als Jan-Philipp an dem Abend nicht ans Telefon ging, war ich nicht besorgt, ich war sauer!” Niemand weiß, wie die Entführung ausgegangen wäre, hätte sich Scheerer weiter auf die Polizei verlassen. Hinter dem Rücken der Polizei nimmt sie Kontakt zu den Entführern auf und organisiert schließlich erfolgreich die Geldübergabe. Reemtsma kommt frei, die Familie zieht sich auf der Flucht vor den Medien erst einmal nach New York zurück.

Was diese schrecklichen 33 Tage wirklich mit Johann Scheerer gemacht haben, erfährt man weder im Buch noch im Film. Claude Heinrich spielt diesen verwirrten 13-Jährigen als stummen Zeugen, der keine Worte hat und sich für seine Sehnsucht nach den Proben mit seiner Schülerband schämt. Und den hin und wieder die Wut überkommt – auf die Erwachsenen, auf die Polizei, auf die Ungerechtigkeit der ganzen Welt. Da ist nur dieser kleine Hinweis gleich zu Beginn, auf die Angst, die damals in sein Leben eingedrungen ist. Es ist kaum vorstellbar, dass ein 13-Jähriger, der 33 Tage lang mit nur wenig Ablenkung das Martyrium der Erwachsenen mit durchleben muss, aber selbst nichts tun kann, das ganz unbeschadet übersteht. Vermutlich hat Scheerer sich als Erwachsener mit dem Schreiben seines Buches wenigstens zum Teil von dem Trauma befreien müssen. Es sei ihm zu wünschen, dass das gelungen ist.