Filmblog // ME, WE

Von Frauke Haß 

Marie will Menschenleben retten. Unbedingt. Entschlossen reist sie auf die griechische Insel Lesbos, um dort in einem Willkommenscamp zu arbeiten. Doch es sind gar keine Geflüchteten da. Seit Wochen sind keine angekommen und die freiwilligen Helfer:innen lungern nur gelangweilt herum, üben ein wenig den Ernstfall. Marie macht das nicht länger mit. Sie heuert auf einem Seenotrettungschiff an, um auf See ganz direkt Menschen zu retten. Endlich glaubt sie am Ziel zu sein, glaubt, etwas Nützliches tun zu können. Doch dann wird dem Schiff die Flagge entzogen und es kann auf unbestimmte Zeit nicht auslaufen. Wieder muss sie warten, hat nichts Vernünftiges zu tun, und reagiert doch fassungslos, als ihr Vater sie bittet, zum Geburtstag ihrer Mutter zu erscheinen. „Papa, wir retten hier Menschenleben!“

Marie ist in Wien aufgebrochen, wo sie im von Gerald geleiteten Asylbewerberheim tätig war. Das Heim ist von Schließung bedroht – eine Reihe von Vorfällen, bei denen Heimbewohner unangenehm aufgefallen waren, lassen die Behörden den Druck auf Gerald erhöhen: Er muss für Ordnung sorgen. Leidenschaftlich setzt er sich im schwierigen Alltag für seine Bewohner ein. Doch sein Nervenkostüm ist längst brüchig geworden. Als der junge Aba ihn immer wieder provoziert, kommt es zum Eklat. Gerald hält den Druck nicht mehr aus, will Aba unbedingt loswerden und lässt sich zu einer unverzeihlichen Tat verleiten.

David Clay Diaz‘ Film ME, WE (Österreich 2021) verwebt die Geschichten von vier Protagonist:innen zu einem Porträt von Österreich in Zeiten erhöhter Migration. Dabei hält sich das Drehbuch betont zurück: Hier wird kein Urteil gesprochen, keine Bewertung vorgenommen. Die Kamera rückt sehr nahe an die vier ganz unterschiedlichen Charaktere heran, die sich auf ihre Weise zu der zunehmenden Zahl an Geflüchteten in Österreich verhalten.

Da ist der 17-jährige Marcel, der seine Wut auf die Geflüchteten gezielt nährt, und mit seinen Freunden eine Service-Agentur gründet, die jungen Frauen sicheres Geleit nach Hause bietet – nachts aus der Disco oder tagsüber vom Einkauf. Kostenlos, Transport inklusive. „Für ein sicheres Österreich.“

Und da ist die Redakteurin Petra, die den geflüchteten minderjährigen Syrer Mohammed bei sich aufnimmt und ihn mit wohlmeinender Intoleranz auf österreichische Werte einschwören will, nur um schließlich festzustellen, dass Mohammed weder minderjährig noch Syrer ist und Frau und Kind in Marokko zurückgelassen hat.

Es ist ziemlich unerträglich, anzuschauen, wie Petra es stets gut meint und doch fast immer knapp daneben liegt und sich am Ende vor allem für ihre eigenen Interessen ins Zeug wirft, um damit fundamental und in peinlicher Öffentlichkeit zu scheitern. Die Geschichte nimmt dann eine Wendung, die allerdings gar nichts mehr meint. Und das ist leider bei fast allen der Episoden so. Denn es bleibt ein Rätsel, was den menschenfreundlichen Gerald dazu antreibt, das Leben eines seiner Schützlinge zu zerstören und gleichzeitig das von ihm so lange verteidigte Heim vermutlich der Schließung anheim zu geben. War es Abas Vorwurf, er sei schwul?

Und was geht in Marcel wirklich vor, der Hassreden auf „Tschuschen“ führt und Österreich sicher machen will und im nächsten Moment ein ganz netter Kerl zu sein scheint, der ein bisschen einsam ist und einen Sinn sucht.

Das Drehbuch hält sich hier so stark zurück, dass viele Fragen offen bleiben. Einzig an Maries Beispiel (in authentischer Intensität verzweifelt: Verena Altenberger) zeigt David Clay Diaz sehr überzeugend, wie der Wunsch, Geflüchteten zu helfen, zum Selbstzweck werden kann, dessen Ziel am Ende ein egoistisches ist: sich selbst zu verwirklichen und – endlich – gut zu fühlen.