Über die Macht der Archive und das Nutzen der Scham

von Lou Burkart, weißes queeres Teammitglied des DFF

Über die Macht der Archive und das Nutzen der Scham

Zum Internationalen Tag gegen Rassismus

„It’s because being American is more than a pride we inherit,
it’s a past we step into / and how we repair it”
Amanda Gorman, bei dem Amtsantritt von Joe Biden, 20. Januar 2021

 

Wir könnten uns von Amanda Gormans hiervorangestellten Worten distanzieren. Und mit uns meine ich Menschen, die in Deutschland leben und sich als Deutsche definieren. Letztendlich spricht sie von den USA und deren problematischer Vergangenheit in Bezug auf BIPoC (= Black Indigenous People of Colour).

Wir weisen gerne rassistische Diskurse, die Schwarze Menschen betreffen, von uns weg. Zuweilen mit der sehr fragwürdigen Entschuldigung und  schockierenden Argumentation, dass sich bestimmte Staaten noch schlechter verhalten hätten. Oder, dass unsere Verwicklung in den Kolonialismus  geringer gewesen sei als anderswo (zur Widerlegung hier ein Hinweis auf den kürzlich erschienenen Text Amt 45 i von Cameron Rowland). Auch wird behauptet, dass die strukturelle Unterdrückung und Benachteiligung von Minderheiten in Deutschland weniger ausgeprägt sei.

Doch abseits eines sinnlosen Vergleichs kann unser Verhalten innerhalb einer kleineren Gemeinschaft – national, regional, lokal oder sogar im privaten Kreis – in Frage gestellt werden. Dafür gibt es natürliche Hilfestellungen: Raum und Zeit. Beide ermöglichen es uns, echauffierte Reaktionen beiseitezulegen und unseren Verstand verstärkt einzusetzen. Als Filmarchiv bieten wir eine Vielzahl an Beispielen und Werkzeugen, um uns mit zeitlicher Distanz auseinanderzusetzen. Einer der dankbarsten und spannendsten Aspekte meiner Arbeit ist es, die Entwicklung einer Gesellschaft anhand der von uns bearbeiteten Filme beobachten zu können. Wenn mich Verhalten und Aussagen in Texten oder Dialogen schockieren, erinnert es mich zeitgleich daran, wie weit und steinig der Weg war, aber auch wie hoffnungsvoll wir auf soziale Bewegungen blicken dürfen. Meine Verachtung gegenüber der Inhalte einzelner Archivalien mag ich als Beleg verstehen, dass die Gesellschaft sich ändert und verbessert. Die Filmproduktion TOXI aus dem Jahr 1952, die das DFF 2021 digitalisiert hat, ist ein solches Beispiel.

Der Film behandelt die Geschichte von einem Kind, das aus der Beziehung zwischen einer deutschen weißen Frau und einem afro-amerikanischen Soldaten hervorgegangen ist. Trotz der damaligen guten Intention von Seiten des Regisseurs ist ein stark rassistischer Film entstanden. Das Kind bleibt lediglich eine Projektionsfläche für die Unterdrückungs- oder Rettungs-Fantasien von weißen Menschen. Das Kind bekommt keine individuelle Persönlichkeit, und die Schauspielerin wird noch lange mit dem Rollennamen angesprochen. TOXI bedient auch das geläufige Verhalten gegenüber Minoritäten, das als nimby abgekürzt wird: „Not in my backyard“. Das Mädchen Toxi wird akzeptiert solange ihr Umfeld denkt, dass sie nur kurz zu Besuch ist und sie sehr bald wieder abreist. Sobald klar ist, dass das Kind bleiben möchte oder sollte, schlagen die Meinungen um und es zeigen sich verstärkt rassistische Verhaltensweisen.

Die Digitalisierung von TOXI ist als breite Verfügbarmachung nicht nur von einem Film sondern von vergangenen Sitten und Diskursen zu verstehen. Er gibt allen von uns die Möglichkeit, unsere heutigen Werte denen der 1950er Jahre gegenüberzustellen. Doch sich in der angenehmen Erkenntnis über das schockierende Verhalten von Menschen von vor 70 Jahren auszuruhen, wäre ein Missverständnis des Texts. Die Relevanz und Aktualität dieses “als zentral gesellschaftliches” anerkannten Themas belegt die im Mai 2022 veröffentlichte Studie Rassistische Realitäten vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor. Während eine klare Mehrheit die Existenz von Rassismus in Deutschland anerkennt, glaubt noch immer mehr als die Hälfte der Bevölkerung an die Existenz menschlicher ‚Rassen‘. Dass Rassismus sich mehrheitlich subtil und unbewusst äußern kann, ist bekannt. Das bestätigen mehr als zwei Drittel der Menschen indem sie anerkennen, dass Leute sich auch ohne Absicht rassistisch verhalten können. TOXI ist somit eine Einladung, das eigene Verhalten zu analysieren und kritisch zu hinterfragen – auch noch in der heutigen Welt.

Am Internationalen Tag gegen Rassismus, lassen Sie uns in unserer Vergangenheit alle mindestens eine Situation identifizieren, in der wir rassistischen, homophoben, sexistischen oder anderen abwertenden Mustern gefolgt sind, ohne sie in der Situation reflektiert zu haben.

Ich fange an:

Als ich mit einer chinesischen guten Freundin an einem deutschen Bahnhof unterwegs war, liefen wir an einer – lauten und extrovertierten – Gruppe von weißen Männern vorbei. Einer schaute uns an und rief laut in unserer Richtung „Konnichiwa“, eine japanische Begrüßungsformel. Meine Freundin lief vorbei und antwortete, ohne ihn anzuschauen, mit einem hochgestreckten Mittelfinger. Ich verstand die Situation nicht und versuchte ihr zu erklären, dass die Person Kontakt zu uns aufnehmen wollte und seine Worte nicht abwertend gemeint waren.

Was mir leider zu spät in den Sinn kam, ist, dass dieser Mann keinen Drang zur Kommunikation hatte, sondern laut und unüberlegt eine Person als Fremdobjekt wahrgenommen hat. Er hat sie eingesperrt in einer Identität, die nicht ihre ist. Er hat die Person auch nicht mit der südostasiatischen Region zusammengebracht, sondern direkt einen erheblichen Teil des Kontinents auf die, von ihm schlecht gekannte, japanische Kultur projiziert. Diese Verschmelzung von diversen Kulturen zu einer einzigen ist beispielhaft für eine Vereinfachung des Weltbilds und die Verneinung von Diversität. Daraus entsteht zweifellos ein rassistisches Verhalten. Was mir meine Freundin zudem mitteilte, war die gängige Annahme von Weißen, dass südostasiatische Menschen als introvertiert und wehrlos gelten. Deswegen legt sie sehr viel Wert darauf, dieses Bild zu durchbrechen und – wenn auch provokant – zu reagieren.

Ich habe damals das rassistische Verhalten dieses Mannes nicht nur akzeptiert sondern auch entschuldigt. Heute daran zu denken, ist weiterhin schmerzhaft, doch diese Gefühle sind jedes Mal eine Lektion, Erfahrungen von anderen Menschen zu beherzigen und zu respektieren. Es ist ein nützlicher Trigger geworden, um bei meinen Gedanken und meinen Wertungen die Erfahrungen von anderen viel stärker miteinzubeziehen.

Lassen Sie uns verstehen und anerkennen, dass die Welt, die Gesellschaft und somit auch unsere Persönlichkeit sich verändert und entwickelt. Als Institution, die für die Bewahrung von Archivmaterialien zuständig ist, haben wir einen besonderen Bezug und nahbaren Zugang zur Vergangenheit. Benutzen wir ihn, um die Gegenwart zu formen und die Zukunft für alle Menschen lebenswerter zu machen. In der Hoffnung, dass unsere Veranstaltungen und Programme diesen Blick in die Vergangenheit auch unserem Publikum ermöglicht, rufe ich alle Menschen, die diese Zeilen lesen, auf, ihre eigene biases (= Voreingenommenheiten) gegenüber Minoritäten zu hinterfragen. Durchsuchen Sie Ihre Vergangenheit und trauen Sie sich für einen kurzen Moment, sich schlecht zu fühlen. Erinnern Sie sich an diese Scham und benutzen Sie sie. Sie ist kostbar und lehrreich.