Auf der immerwährenden Suche nach Qualität in der Frühkindlichen Kulturellen Bildung

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Der folgende Beitrag ist erschienen in: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum (Hrsg): Perspektiven Frühkindlicher Filmbildung, Themenheft 1 Filmästhetik und Kinomagie – Erfahrungen mit dem MiniFilmclub, S. 5-7.

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Erfahrungen mit dem MiniFilmclub

Von Christine Kopf

Vom Kind aus zu denken, es immer konsequent in den Mittelpunkt zu stellen – das haben wir, das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, in unserer nun langjährigen Partnerschaft zwischen Kita und Kulturinstitution von den Pädagog*innen der Grünen Soße gelernt. Das klingt einfach und selbstverständlich – aber wie oft spielt sich stattdessen die Institution in den Vordergrund, wie schnell sind weit verbreitete Vorannahmen von Erwachsenen wirksam, was kindgerecht oder für Kinder gut sei. Dabei gibt Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention Kindern das Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung.

Das bedeutet auch: keine Reduktion von Qualität, wenn es für diese Zielgruppe um die Begegnung mit Kunst, in unserem Fall mit Filmkunst, geht. Für die Konzeption von neuen Formaten in der Frühkindlichen Kulturellen Bildung bedeutet es: Kinder können und wollen gefordert werden. Im Alter bis fünf Jahre haben sie ein besonderes „gestalterisches Potential“ (Fridolin Sickinger) und können dieses durch die richtigen Impulse erweitern. Deshalb verdienen sie weit mehr, als mit niedlichen Figuren oder trivialen Filmen abgespeist zu werden. Sie haben ein Recht auf große Kunst, aber auch darauf, selbst zu entscheiden, ob sie dieser überhaupt begegnen wollen. Auch das ist in den Kinderrechten geregelt (Artikel 12, Berücksichtigung des Kindeswillens).

Bei der Entwicklung des MiniFilmclubs haben wir festgestellt: Neue Formate können wir nur sinnvoll entwickeln, wenn wir sie wiederholt mit Kindern erproben, genau beobachten, was funktioniert, einiges verwerfen (durchaus auch ausgewählte Filme) und neu denken, uns von Kindern inspirieren lassen. Der MiniFilmclub, obschon im Frankfurter Alltag seit 2015 buchbar, wird als Format nie abgeschlossen sein.

Akteur*innen der Frühkindlichen Kulturellen Bildung, denen es um Qualität geht, wissen, dass Kinder (generell, aber eben auch schon von drei bis sechs Jahren) unser geballtes Wissen, am besten aus Pädagogik und der gesamten Filmgeschichte, verdienen. Nicht, um sie damit zu belehren, sondern um die richtigen Filme auszuwählen und das Setting für die ästhetischen Prozesse sorgfältig zu gestalten. Kinder haben ein Recht darauf, die besten hochwertigen Materialien zu bekommen und genügend Zeit zu haben, sich ohne festgelegtes Ziel in den Umgang damit zu vertiefen. Sie sind von Anfang an „ganze Menschen“, mit denen wir uns gemeinsam auf eine Entdeckungsreise begeben können. Und: Sie verdienen unsere permanente Reflexion darüber, was wir wie und warum tun.

Foto: Sabine Imhof

Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss macht Qualität in der Kulturellen Bildung an vier Dimensionen fest.[1] Die wichtigste ist nach ihrer Ansicht die vierte, prozessuale Dimension: die „Gestaltung von ästhetischen Prozessen, die Bedingungen für eine positive Produktivität schaffen, zum Beispiel‚ durch eine partizipative Diskussions- und Kommunikationskultur, ein grundsätzliches Interesse an ‚dem Anderenʻ und ‚dem Neuenʻ und den Aufbau einer Vertrauenskultur, einer zwischenmenschlichen Bindung der Akteure.“[2]

Lernen – beim Sich-Etwas-Aneignen und Experimentieren – findet unserer Erfahrung nach vor allem in Beziehungen statt. Die Pädagog*innen, die die Kinder begleiten, haben diese gewachsenen Beziehungen zu den Kindern sozusagen „im Gepäck“, sie sind daher bei jedem kulturellem Bildungsangebot in einer besonderen, aktiven Rolle, die weit über Beaufsichtigung hinausgeht. Wenn es zeitlich möglich ist, dass die Vermittler*innen sowohl mit den Kindern als auch vorab mit den Pädagog*innen wirklich in Kontakt treten können, entsteht aus unserer Erfahrung eine ganz andere Qualität, als bei einem einmaligen zweistündigen Besuch. Da der Aufbau einer Beziehung Zeit benötigt, beginnt der MiniFilmclub mit einer mindestens ganztägigen Fortbildung für die Pädagog*innen und besteht dann aus einer aufeinanderfolgenden Reihe von Kino- und Museumsbesuchen gemeinsam mit den Kindern. Die Gruppe trifft dabei immer auf die gleiche Vermittlerin oder den gleichen Vermittler.

Kulturelle Teilhabe gerade auch denjenigen zu ermöglichen, die nachweislich vor allem in Deutschland durch das soziale Hierarchien reproduzierende Bildungssystem Schule benachteiligt werden, haben wir uns im DFF und im MiniFilmclub-Team auf die Fahnen und ins Leitbild geschrieben. Nicht, um Kinder für einen späteren Arbeitsmarkt „flott“ zu machen, sondern um ihnen Kunst als lebenslange Bereicherung nahezubringen, als Ressource für kritisches Denken und Resilienz, als einen erweiterten Handlungsspielraum. Wir verstehen Kino als einen gemeinschaftlichen Ort, an dem in der immer neuen Begegnung mit Film nicht zuletzt Gesellschaft neu gedacht und verhandelt werden kann, Utopien ihren Platz haben. Als in diesem Sommer nach monatelanger pandemiebedingter Schließung das Kino des DFF wieder öffnete, waren es die Kitas und Kindergärten, die zuerst zurückgekehrt sind, und die Drei- bis Sechsjährigen haben diesen für uns so besonderen Ort wieder mit Leben gefüllt.

Noch zu oft ruft diese Altersgruppe die immer gleichen Reaktionen im Kulturbetrieb hervor: Da wäre die Angst vor Menschen, die sich die Welt rennend, laut und vielleicht sogar mit schmutzigen Händen erobern – auch die heiligen Museumshallen. Und nicht weniger zentral, aber oft nicht ausgesprochen: die Angst (oder doch zumindest der Respekt) vor einer Gruppe, bei der die gewohnte formale, kognitive Wissensvermittlung, die vor allem über Sprache funktioniert, nicht oder nicht immer greift. Oft ist schon in den Ankündigungstexten kultureller Angebote für Kita- und Kindergartenkinder die Fixierung darauf, was diese Zielgruppe ja alles noch nicht kann, herauszulesen – das ist ein wenig inspirierender Startpunkt für eine gemeinsame Reise.

Foto: DFF

Das hängt auch mit den Bedingungen, unter denen gewöhnlich in der Kulturellen Bildung gearbeitet wird, zusammen. Sie sind bislang nicht darauf angelegt, dass Qualität entsteht. Fördergelder gibt es nur für immer neue Modellprojekte, am liebsten mit dem Etikett „innovativ“ versehen. Nachhaltigkeit bleibt oft eine Floskel aus den obligatorischen Sachberichten, Verantwortung dafür liegt ausschließlich bei den Geförderten. Formate sollen schon vor der Antragstellung fertig entwickelt sein – dann eben am Schreibtisch. So ist eine langsam wachsende Kooperation zwischen Kita (oder Schule) und Kultureinrichtung kaum möglich. An gemeinsames konzeptionelles Entwickeln, mit Kindern Ideen erproben und wieder verwerfen, an gründliches Feilen und gemeinsames Lernen auf dem Weg ist nicht zu denken.

Der MiniFilmclub ist in einem wirklich außergewöhnlichen Förderprogramm – dem Programm „Kunst und Spiele“ der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Brandenburger Tor – entstanden, das all das oben Genannte ausnahmsweise möglich machte. Zusätzlich gab es auch noch eine Prozessbegleitung sowie ein lebendiges Netzwerk von bundesweiten Kolleg*innen aus Kitas, Theatern, Museen und Orchestern. Unser herzlicher Dank geht hier an Ottilie Bälz, Natalie Kronast, Julia Teek und Lena Vorholt.
Einer weiteren Stiftung verdanken wir viel: Die Kulturstiftung des Bundes ermöglichte und ermöglicht uns, unsere Erfahrungen mit dem MiniFilmclub bundesweit zu teilen und dadurch mehr Kinder zu erreichen. Dank den Partnern Filmmuseum Potsdam und der integrativen AWO-Kita Kinderhafen konnten wir erstmals den MiniFilmclub in eine andere Stadt bringen und dabei vielfältige Erfahrungen machen. Zusätzlich war es möglich, auch mit dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst e. V. zu kooperieren und uns von der Arbeit des Arsenal Filmateliers und der Kita Regenbogen-Kidz Berlin inspirieren zu lassen. Seit 2020 gibt es den MiniFilmclub im Endstation Kino in Bochum und dem Filmhaus Nürnberg; der Lichtburg Filmpalast Oberhausen steht in den Startlöchern, zwei weitere Kinos haben Interesse angemeldet.

Im Programm „360°“ können wir uns dank der Kulturstiftung des Bundes als DFF auf eine weitere Lernreise begeben: Gemeinsam mit Aida Ben Achour und Rabih El-Khoury stellen wir das Haus neu auf, sodass es im Einwanderungsland Deutschland ein Ort für alle Bürger*innen sein und weiterhin gesellschaftliche Relevanz entfalten kann. Dafür ist es nötig, an die Strukturen (im Programm, beim Personal und Publikum) zu gehen und alles in Frage stellen zu können.

Im Laufe von Fortbildungen, die im Rahmen unseres Projekts „Interkulturelle Filmbildung“ für das ganze Team der Abteilung Filmbildung und –Vermittlung stattfanden, haben wir dann auch einen etablierten Film der MiniFilmclub-Edition aufgrund seiner kulturellen Stereotype analysiert und neu diskutiert. Für dieses Themenheft wollten wir diesen institutionellen Prozess, der nicht einfach ist und bei dem es gilt, Widersprüche auszuhalten und neue Wege zu beschreiten, transparent machen. So kam es zu dem von Alejandro Bachmann geführten Gespräch mit Daniela Dietrich, Bettina Marsden, Aida Ben Achour und Britta Yook. Das Arbeitsblatt zu LES KIRIKI – ACROBATES JAPONAIS wurde entsprechend von der Autorin Stefanie Schlüter überarbeitet.

Foto: Sabine Imhof

In meinem Artikel „Reden wir Tacheles. Ein kritischer Blick auf die gegenwärtige Fördersituation für Frühkindliche Kulturelle Bildung am Beispiel des Mini-Filmclubs“[3] bin ich ausführlich darauf eingegangen, was sich in der Kulturellen Bildung ändern müsste, damit verdienstvolle Mitarbeiter*innen nicht in andere Bereiche abwandern. „Projektitis“ in der Kulturförderung, das liegt auf der Hand, kann auf Dauer zu Erschöpfung bei allen Beteiligten führen, gerade bei den Hochengagierten, die nicht bereit sind, ihre Qualitätsansprüche herabzusetzen. Dass es uns gelungen ist, unter diesen Bedingungen bis heute weiterzumachen, ist etwas ganz Besonderes, darauf können wir stolz sein! An dieser Stelle möchte ich mich von Herzen beim Team der Kita Grüne Soße und bei meinem eigenen Team im DFF bedanken. Ein Dank geht auch an den Sozialpädagogischen Verein für familienergänzende Erziehung e. V., der stets an der Seite des MiniFilmclub-Teams ist, und sich mit uns für kulturelle Teilhabe einsetzt.

Darüber hinaus gibt es seit Januar nun das bundesweite „Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung“ in der Trägerschaft der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), für dessen Gründung wir ebenfalls gemeinsam gekämpft haben und für dessen Ausgestaltung wir parallel zu unserer Arbeit zusätzliche Kraft investieren. Wir hoffen, dass die dort vertretene Multiperspektivität und geballte Expertise etwas an den Bedingungen für Frühkindliche Kulturelle Bildung in Deutschland verändern kann, damit möglichst viele Kinder die Möglichkeit bekommen, ihrem Recht auf künstlerische Rezeption und Produktion nach- zugehen und dabei die Qualität vorfinden, die sie verdienen.

[1] Die vier Dimensionen sind nicht getrennt voneinander zu verstehen. Die ersten drei beziehen sich auf: die Akteur*innen, die Qualität der künstlerischen Ausdrucks- formen und die Kontexte bzw. der äußere Rahmen.
Vgl. hierzu Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle: Qualitätsdimensionen ästhetischen Lernens. In: Dies., Andrea Ehlert (Hg.): Qualität ist Bewegung. Qualität(en) in der Kulturellen Bildung. Wolfenbüttel: Bundesakademie für Kulturelle Bildung 2013, S. 8 – 17.

[2] Ebd., S. 15

[3] Kopf, Christine: Reden wir Tacheles. Ein kritischer Blick auf die gegenwärtige Fördersituation für Frühkindliche Kulturelle Bildung am Beispiel des MiniFilmclubs. In: Robert Bosch Stiftung (Hg.): Positionen Frühkindlicher Kultureller Bildung. München / Stuttgart: kopaed 2020, S. 133 – 138.

 

Christine Kopf

Christine Kopf studierte Filmwissenschaft, Deutsche Philologie und Kulturanthropologie. In Wiesbaden leitete sie einige Jahre das goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Sie entwickelte Konzepte, Ausstellungen und Filmreihen u. a. für das Filmhaus Nürnberg, ZKM – Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Kulturamt Wiesbaden und – seit 20 Jahren und allen voran – für das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum. Von 2013 bis 2019 war sie Kuratorin für den Filmpreis der Robert Bosch Stiftung für internationale Zusammenarbeit zwischen jungen Filmemacher*innen aus Deutschland und der arabischen Welt. Seit 2013 leitet sie am DFF die Abteilung Filmbildung und -vermittlung, seit Mai 2018 ist sie zusätzlich als Co-Leiterin für die Strategische Entwicklung des DFF zuständig. Sie hat zahl reiche erfolgreiche Filmbildungsprojekte aufgesetzt, darunter der MiniFilmclub, und ist u. a. Initiatorin und Leiterin der kulturpolitisch aktiven AG Filmbildung und -vermittlung im Deutschen Kinematheksverbund.