Über Filmtourismus

Nordisland, Spätsommer 2019. Erwartungsvoll steige ich hinab in die Höhle mit dem schönen, unaussprechlich-isländischen Namen Grjótagjá. Die niedrige Felsdecke überspannt einen kleinen, unterirdischen See, von dessen geothermisch aufgeheizten Wasser feucht-warmer Nebel aufsteigt. Das Wasser des Sees ist von intensivem Türkis und so klar, dass man die Felsen am Boden erkennen kann. Das in schrägen Strahlen einfallende Tageslicht lässt den Ort so unwirklich erscheinen, dass man sich die Augen reiben will.

Anfang des 18. Jahrhunderts, als andere den Ort mieden, lebte in der Höhle der Gesetzlose Jón Markússon, der vom Alþingi, dem isländischen Parlament, aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Nach Jóns Tod wurde die Höhle mit ihrer heißen Quelle von Einheimischen als Badeort genutzt. Als von 1975 bis 1984 das Vulkansystem der Krafla mehrmals ausbrach, wurde sie, unter anderem aufgrund der gestiegenen Wassertemperatur, als Badeort unbrauchbar. Zwar kühlte nach 1984 die Temperatur langsam ab, jedoch ist heute das Baden in Grjótagjá nicht mehr erlaubt.

Doch daran denke ich nicht. Ich denke: Hier war es also. Episode 5, Staffel 3. Und versuche, mich an die Szene der HBO-Serie GAME OF THRONES zu erinnern: Ygritte (Rose Leslie) lockt Jon (Kit Harrington) in die Höhle (war die nicht viel größer?), wo sie ihn verführt (war da nicht ein Wasserfall im Hintergrund?). (An dieser Stelle muss ich gestehen: Ich bin Teil des GoT-Tourismus, der seit Beginn der Ausstrahlung der Serie 2011 neben anderen Orten auf der Welt auch Island ergriffen hat.) „I don’t ever want to leave this cave“, raunt Ygritte in besagter Szene ihrem Liebhaber zu.

Da würde ich widersprechen. Aufgrund des schwefelhaltigen Wassers des Sees ist die Höhle erfüllt vom durchdringenden Geruch fauler Eier. Tatsächlich wurde die Szene hauptsächlich im Studio gedreht und Aufnahmen der Höhle nur für wenige Einstellungen verwendet. Und der Wasserfall, tja, der war computergeneriert. Enttäuscht bin ich trotzdem nicht – was angesichts der (buchstäblich atemberaubenden) natürlichen Schönheit der realen Höhle auch gänzlich unangebracht wäre.

Island – dieses kleine, ferne, dünn besiedelte Land, das man sonst kaum auf dem Schirm hat – ist mit seinen überwältigend schönen, einzigartigen Landschaften als Filmdrehort geradezu prädestiniert. Isländische Landschaften tauchen vor allem in Science-Fiction-, Fantasy- und Abenteuerfilmen auf – von INTERSTELLAR (US/UK/CA 2014, R: Christopher Nolan) über STAR WARS: EPISODE VII – THE FORCE AWAKENS (US 2015, R: J.J. Abrams) oder STAR TREK: INTO DARKNESS (US 2013, R: J.J. Abrams) bis hin zu THE SECRET LIFE OF WALTER MITTY (US/UK 2013, R: Ben Stiller).

Der nicht weit von Grjótagjá entfernte, mächtige Wasserfall Dettifoss bildete den Hintergrund der spektakulären Anfangsszene des Films PROMETHEUS (US/UK 2012, R: Ridley Scott). Der See Jökulsárlón am Rand des Gletschers Vatnajökull im Südosten Islands diente als Drehort für die Verfolgungsjagd in DIE ANOTHER DAY (UK/US 2002, R: Lee Tamahori), für die man den See vollständig zufrieren ließ, indem man den Fluss zuschüttete, der den Gletschersee mit dem Meer verbindet.

Bild Wasserfall

Filme und Serien können Orten eine neue Geschichte geben. Besucht man den Ort, erlebt man diese Geschichte aufs Neue, eignet sie sich an, macht sie ein Stück weit zu seiner eigenen Geschichte. Es ist ein wenig so, als könne man zu Jon Snow in die heiße Quelle steigen oder als könne man vom Seeufer aus Bonds Verfolgungsjagd beobachten. Plötzlich ist man dabei, wenn auch nur in seinem eigenen Kopf. Und das ist es doch, was wir auch an Filmen lieben – dass sie uns nicht nur unvergessliche Bilder in den Kopf setzen, sondern in uns auch Gefühle, Gedanken und Erinnerungen auslösen, die uns zu dem Gezeigten in Beziehung setzen. Als Filmtourist/in sucht man diesen Effekt mit Nachdruck. Man begibt sich auf die Spuren der Schauspieler/innen und der Filmcrew, um ihnen möglichst nahe zu sein. Filmszenen verbinden sich so mit Erinnerungen und aus Filmgeschichten werden eigene Geschichten. Schön, oder?

Kommt drauf an, was man daraus macht. (Film-)Tourismus kann an seinen Schauplätzen auch lärmende Menschenmengen, riesige Parkplätze und Müllhaufen erzeugen oder sogar Selfie-Tode verursachen (die mir angesichts der zahlreichen, mit wenigen Absperrungen versehenen Wasserfällen in Island als durchaus möglich erscheinen). Er kann aber auch zu stiller Freude werden – wenn man mit Filmbildern im Kopf durch das Land wandert oder sich beim Sehen einer Filmszene an den Schwefel-Gestank der romantischen Liebeshöhle erinnert.

Von Naima Wagner

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