Wittstock, Wittstock

Von Jenni Ellwanger

Schonmal von Wittstock/Dosse gehört? Die Stadt im brandenburgischen Kreis Ostprignitz-Ruppin war von 2003 bis 2009 die flächenmäßig drittgrößte Stadt in Deutschland. 2019 fand hier unter dem Motto „Rundum schöne Aussichten“ die brandenburgische Landesgartenschau statt.

Soweit, so unspektakulär.

Nach den Eingemeindungen 2003 sind die Einwohnerzahlen wieder rückläufig. Gute Aussichten, könnte man meinen, gibt es eher rundum als hier.

Das war mal anders. 1968 eröffnete hier das volkseigene Obertrikotagenwerk „Ernst Lück“, ein florierender Großbetrieb, der noch 1989 als größter Arbeitgeber 2800 Menschen in Wittstock beschäftigte, fast alle von ihnen Frauen. Planerfüllung? Aber sicher! Perspektiven? Jede Menge! Für die Fabrikarbeiterinnen Edith, Renate und Elsbeth begann dort 1974 die Zukunft. Begleitet hat sie 22 Jahre lang Regisseur Volker Koepp und mit seinem Wittstock-Zyklus Filmgeschichte der DDR geschrieben.

Im Oktober präsentiert das Kino des DFF eine Werkschau, beginnend mit den ersten vier Kurzfilmen des einmaligen Wittstock-Zyklus, die bereits vergangene Woche zu sehen waren.

Als Koepp die jungen Frauen 1974 kennenlernt, sind sie Anfang 20 und frisch ausgebildete Textilarbeiterinnen. Der Regisseur gibt seinen Protagonist/innen Raum, fängt das Rattern der Maschinen, die Stimmung und das Miteinander der Frauen gleichermaßen ein und erhält auf seine zurückhaltenden Fragen verblüffend ehrliche Antworten. Bilder des Fabrikalltags mischen sich mit Tanz- und Knutschszenen aus lebendigen Kneipen voller junger Menschen und Blicken in Wohnheimzimmer mit 70ies-Flair.

 

Bandleiterin Edith ist eine Protagonistin des Wittstock-Zyklus

In der Fabrik fehlt es an langjährigen Führungskräften – gleichaltrige Frauen übernehmen schnell Verantwortung und Leitungspositionen. Selbstbewusst, offen und voller Engagement legen Edith, Elsbeth, Renate und ihre Kolleginnen Zeugnis ab vom Arbeitsalltag berufstätiger Frauen in der DDR, privaten Hoch- und Tiefpunkten in ihren Leben und dem Miteinander in Wittstock. Gleich zu Anfang lernen wir Edith kennen, die durch ihre direkte Art hervorsticht. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge und legt sich im Zweifel auch mit ihren Vorgesetzten an, wenn es darum geht, Missstände beim Namen zu nennen. Für den Betrieb wird sie gerade aufgrund ihrer Unverblümtheit über die Jahre immer wichtiger, sie genießt großes Vertrauen bei Kolleginnen und Leiterinnen und arbeitet sich von der Bandleiterin zur Meisterin und schließlich Obermeisterin hoch.

 

Wiedersehen mit der ehemaligen Textilarbeiterin Elsbeth in WITTSTOCK, WITTSTOCK

Von Trübsal keine Spur auch bei Elsbeth. Mit trockenem Humor kommentiert sie alltägliche Situationen und lässt sich auch dann nicht unterkriegen, als ihre Liebesbeziehung scheitert und sie eine Fehlgeburt erleidet. Jahre später kämpft sie in WITTSTOCK, WITTSTOCK mit einer Umschulung um ihr Auskommen. Aufnahmen ihrer und Renates Kinder und ein Rundgang durch die mittlerweile geschlossenen Werkshallen beschließen den Wittstock-Zyklus.

Zum Einstieg in das Langzeitporträt empfiehlt sich ganz wunderbar LEBEN IN WITTSTOCK (Wittstock V), der heute um 18:30 Uhr im Kino des DFF zu sehen ist.

 

In diesem fünften Teil des Zyklus kommen die Fäden der ersten vier Teile in Spielfilmlänge zusammen, ergänzt um neue Aufnahmen der Protagonist/innen aus dem Jahr 1984. Es sind dies die letzten Momentaufnahmen, bevor Koepp fünf Jahre später in NEUES IN WITTSTOCK die Schließung des Betriebs nach der Wende dokumentiert. Weitere sechs Jahre darauf, 1997, arbeiten alle drei, Renate, Elsbeth und Edith, in mehr oder minder prekären Gelegenheitsjobs.

Volker Koepps Wittstock-Zyklus: Er ist eine absolut sehenswerte und faszinierende Zeitstudie, die den Wandel einer DDR-Stadt und der Leben ihrer Bewohner/innen auf ergreifende Weise nahebringt und die deutsch-deutsche Filmgeschichte um weit mehr als drei faszinierende Leinwandheldinnen bereichert.

Die Reihe wird ergänzt durch drei neuere Filme Koepps: UCKERMARK (2002) über den größten und gleichzeitig am dünnsten besiedelten Landkreis Deutschlands, den teilweise autobiographischen BERLIN – STETTIN (2009), und SEESTÜCK (2018) über die Natur und die Menschen an der Ostsee.

Hier geht es zur Filmreihe Volker Koepp im Kino des DFF.